Die mentale Gesundheit im Spitzensport ist in den letzten Jahren in den Fokus gerückt. Denn Profisportlerinnen und -sportler sind in ihrem Alltag einem enormen Druck ausgesetzt.
So erging es auch der ehemaligen Kunstturnerin Ariella Kaeslin. Ihr Beispiel zeigt, wie trügerisch das Scheinwerferlicht im Profisport sein kann: Demütigungen ihres Trainers, ein enormer Leistungsdruck und der Drang, möglichst dünn zu bleiben – zu diesen Erfahrungen äusserte sich die damals 24-Jährige nach ihrem Rücktritt 2011.
Und damit ist sie kein Einzelfall: Auch der Turnsuperstar Simone Biles aus den USA hat bei den letzten Olympischen Spielen in Tokio aufgrund psychischer Probleme per X (ehemals Twitter) ihren plötzlichen Abgang von der olympischen Bühne verkündet. Innert weniger Minuten erhielt sie von ihren Fans als Reaktion auf diese Nachricht Hunderttausende Likes. Jetzt tritt die 27-Jährige wieder in Paris an und ihr wird eine Art Vorbildfunktion zugesprochen, indem sie auch als Medaillenfavoritin in der Öffentlichkeit über ihre mentale Gesundheit spricht.
Das Bewusstsein für die Relevanz der mentalen Gesundheit im Spitzensport steigt. Für Michael Liebrenz von der Universität Bern zeichnet sich diesbezüglich ein Generationenwechsel ab. «Insbesondere in der Vergangenheit lag der Fokus vorrangig auf körperlicher Leistungsfähigkeit und den technischen Fähigkeiten.» Den Einfluss der Sportpsychologie habe man erst später erkannt.
Die psychische Belastung im Spitzensport
Laut einer aktuellen Studie liegt bei 19 Prozent der aktiven Athleten Alkoholmissbrauch vor, bis zu 34 Prozent sind demnach von einer Angststörung und Depression betroffen. Es hat sich zudem gezeigt, dass Essstörungen in bestimmten Sportarten häufiger auftreten als in der Normalbevölkerung.
Besonders bei grossen Ereignissen, wie beispielsweise bei der Unterzeichnung von neuen Verträgen im Profibereich oder beim Wechsel in eine Profikarriere, wenn gleichzeitig die klassische Ausbildung aufgegeben wird, steigt die psychische Belastung. «Diese Übergangsphasen markieren den Einstieg in ein System, das sehr hohe Leistungen fordert, aber nur begrenzte Sicherheit bietet, wie zum Beispiel durch kurzfristige Verträge», sagt Liebrenz.
Auch am Ende ihrer Karriere stehen viele Sportlerinnen und Sportler vor der Herausforderung, sich in der Welt ausserhalb des professionellen Sports zurechtzufinden.
Körper und Geist – eine untrennbare Einheit
Gerade in einer leistungsorientierten Welt sei es wichtig, zu erkennen, dass mentale Gesundheit ein Bestandteil der Gesamtleistung sei. Viele Athletinnen und Athleten suchten deshalb heutzutage aktiv nach einem Ausgleich ausserhalb des Sports, sagt Liebrenz. «Die Bedeutung der psychischen Gesundheit kann man nicht hoch genug einschätzen, besonders wenn man die traditionelle Vorstellung einer Unterscheidung von Körper und Geist aufgibt und das als eine untrennbare Einheit betrachtet.»
Psychische Faktoren wie Stressbewältigung, Konzentrationsfähigkeiten, Motivation, Angst-Management – all das spielt gemäss Liebrenz eine entscheidende Rolle bei der Leistungserbringung. Athletinnen und Athleten, die körperlich in Topform sind, können ihr volles Potenzial demnach nur durch eine entsprechende psychische Stärke ausschöpfen.