Ich habe Schüsse gehört und einen Schmerz in meinem rechten Auge gespürt. So einen heftigen Schmerz, dass ich zusammengeklappt bin. Ich bin auf den Boden gefallen, auf meine Knie, und habe angefangen zu schreien.
Vor zehn Jahren war Elena (Name geändert) an einer Tanzdemonstration in Winterthur und musste nach einem Gummischrot-Einsatz mit einer schweren Verletzung am Auge ins Spital – heute sieht sie auf dem rechten Auge noch höchstens 20 Prozent.
Gummischrot ist in der Schweiz ein gängiges Einsatzmittel. Damit steht die Schweizer Polizei im Vergleich zu ihren Nachbarländern einsam da – Jurist Tim Willmann, der an der Universität Bern zu Gewalt an Sportveranstaltungen und spezifisch zu Gummischrot forscht, sagt dazu: «Ein flächendeckender Gummischrot-Einsatz ist mir aus keinem anderen westeuropäischen Land bekannt.» Das Problem: Anders als mit Wuchtgeschossen, die einzeln abgefeuert werden und auch im benachbarten Ausland verwendet werden, ist das Zielen mit Gummischrot schwierig. Bei einem Schuss streuen 28 oder 35 Projektile kegelförmig aus dem Lauf. Damit werden auch Körperstellen getroffen, die nicht direkt anvisiert werden.
Seit den Achtzigerjahren wurden in der Schweiz 34 Fälle von schweren Augenverletzungen nach Gummischrot-Einsätzen dokumentiert (29 Fälle im Bericht, fünf weitere wurden seit Erscheinen des Berichts bekannt). Die Dunkelziffer liegt wohl deutlich höher, denn die Fälle werden nicht in allen Kantonen behördlich dokumentiert und längst nicht alle Betroffenen äussern sich öffentlich über ihre Verletzung. Wir haben mit drei Betroffenen gesprochen, die heute mit irreversiblen Augenschäden nach einem Gummischrot-Einsatz leben. Was sie gemeinsam haben: Nach eigenen Angaben waren sie friedlich unterwegs. Das wirft Fragen auf: Warum setzen Schweizer Polizeikorps überhaupt auf Gummischrot?
Elena (Name geändert) ist 19 Jahre alt, als sie an einer unbewilligten Demonstration in Winterthur teilnimmt. Ein Abend, der ihr Leben nachhaltig verändern wird. Eingekesselt von der Polizei, sucht sie Schutz zwischen zwei Autos. Sie hört Schüsse und spürt plötzlich einen stechenden Schmerz im rechten Auge, der sie schreiend in die Knie zwingt. Der Anfang einer Leidensgeschichte. Sie sieht heute auf dem rechten Auge nur noch bis zu 20 Prozent.
Elena nimmt sich einen Anwalt, der Anzeige wegen Amtsmissbrauch und schwerer Körperverletzung einreicht. Sie fühlt sich ungerecht behandelt. Die zuständige Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland eröffnet kein Strafverfahren. Elena und ihr Anwalt ziehen den Fall weiter ans Obergericht Zürich. Hier wird der Fall dann untersucht. Doch die Angst vor Stigmatisierung ist gross – auch die Sorge, plötzlich als Täterin und nicht als Opfer zu gelten, schwingt mit.
So sagt Elena: «Ich wurde oft vorgeladen und musste bei der Polizei aussagen. Immer, wenn ich meine Geschichte erzählt habe, hatte ich das Gefühl, man versucht mich als unglaubwürdig darzustellen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass man wirklich nach der Wahrheit sucht, sondern dass man versucht, mir etwas zu unterstellen.» Auch kritisiert sie, dass sich die Ermittler und die Angeklagten untereinander kannten: «Man hat sich geduzt und zusammen über das letzte Fussballspiel gesprochen. Ich bin einfach danebengestanden.»
Nach zwei Jahren wurde das Verfahren eingestellt. Der Einsatz von Gummischrot sei verhältnismässig gewesen. Ob die Augenverletzung von Gummischrot komme, könne man nicht mehr sagen. Und auch wenn man von Gummischrot ausgehen würde, dann könnte man heute keinen konkreten Schützen mehr ausfindig machen. Das bräuchte es für ein Strafverfahren, hält das Obergericht Zürich fest. Somit endete das Verfahren, doch der Verlust ihres Augenlichts bleibt bestehen.
Dieser Text entstand aus der Erzählung von Elena.
Luca (Name geändert) hegt eigentlich gar keine Begeisterung für Eishockey. Er begleitet seine damalige Partnerin ans Spiel nach Kloten. Nach dem Spiel machen sie sich, geleitet von der Polizei, auf den Weg vom Stadion Richtung Bahnhof. Es entsteht ein Tumult, Angehörige der beiden Fanlager geraten aneinander. Luca ist nach eigenen Aussagen nicht involviert. Er sieht seine Partnerin nicht mehr neben sich hergehen. Luca streift durch die Menschenmasse und hält Ausschau nach ihr. Plötzlich ein Knall und ein Schmerz im Auge. Er muss mit einer Augenverletzung ins Spital. Ein sechseckiger Abdruck ziert seine Backe unterhalb des Auges. Normal sehen werde er nie mehr können, sagt ihm das medizinische Personal.
Doch sein Leidensweg beginnt hier erst richtig: Er muss sich umschulen. Sein früherer Beruf – zu gefährlich für sein gesundes Auge, wegen Verletzungsgefahr. Doch nicht nur das, das Ereignis sucht ihn in der Nacht heim. Er träumt davon, findet kaum Schlaf, kreisende Gedanken. Luca entwickelt eine Angststörung, die ihn auch im Alltag begleitet. Er wird vergesslicher, kann seinen Hobbies nicht mehr nachgehen. Plötzlich sieht er sich damit konfrontiert, ein neues Leben strukturieren zu müssen.
Auf die Frage, ob er selbst schuld sei, antwortet er: «Es ist einfach, von aussen zu sagen, man sei selber schuld. Die, die das sagen, sollen das mal erleben, Gummischrot ins Gesicht zu bekommen. Vier Operationen über sich ergehen zu lassen, das Leben umkrempeln zu müssen. Man ist nicht selbst schuld.» Trifft er heute auf die Polizei, sechs Jahre nach dem Vorfall, bekommt er schwitzige Hände, sein Mund wird trocken, nur stotterig kann er die Fragen einer Routinekontrolle beantworten, wie er sagt. Er hat sich verändert. Ein schwieriger Prozess. Wut verspürt er jedoch keine gegenüber der Polizei: «Ich bin eher wütend, dass es passiert ist. Mich macht wütend, dass Gummischrot in der Schweiz legal ist. Aber ich verspüre keine Wut gegenüber der Polizei.»
Dieser Text entstand aus der Erzählung von Luca.
David (Name geändert) ist Fussballfan. Sein Herzensverein: der FC Basel. Doch seit er älter geworden ist, trifft man ihn nicht mehr allzu oft an den Spielen an. Im Januar 2022 besucht er mal wieder ein Auswärtsspiel in Luzern. Er reist mit dem Auto an, parkt in der Nähe des Stadions. Nach dem Spiel will er sich auf den Weg nach Hause begeben. Die Polizeikette will ihn jedoch nicht zu seinem Auto durchlassen, sondern an den Bahnhof lenken. Denn alle Fans der Gästemannschaft sollen gemeinsam dorthin gelotst werden. Es folgen Gehässigkeiten der Basler Fans gegenüber der Polizei. Dann lassen sie ihn und weitere Menschen, die zu ihren Autos wollen, durch. Die Fans passieren eine erste Polizeikette und laufen etwa 50 Meter auf eine weitere Polizeikette zu. Diese antwortet der Gruppe mit Gummischrot.
Ein erster Schuss trifft ihn im Auge. Die Fans laufen zurück, dorthin, wo sie herkamen, doch diese Polizeikette schiesst ebenfalls mit Gummischrot. Die Polizei wird später in ihrer Medienmitteilung schreiben, dass sie mit Knallpetarden und pyrotechnischen Gegenständen beworfen worden sei. Dem widerspricht David. Das sei erst die Reaktion auf den Gummischrot-Einsatz gewesen.
David muss operiert werden, verliert Teile seines Sehvermögens. Seinen Schmerz beschreibt er so: «Es ist vor allem lokal, ein lokaler Kopfschmerz, den ich die ganze Zeit hatte. Diesen habe ich immer noch, aber nicht mehr so fest wie damals. Es hat gejuckt und stichartig geschmerzt.» Der Heilungsprozess dauert über zwei Monate. Eine Zeit der Ungewissheit. Hinzu kommt, dass seine Frau damals schwanger war: «Ich bin zwei Monate flachgelegen. Meine Frau war im fünften Monat zu dieser Zeit. Der Heilungsprozess hätte sich verlängern können. Was wäre gewesen, wenn das Kind auf die Welt gekommen und ich noch flachgelegen wäre? Was wäre, wenn ich nicht mehr hätte arbeiten können? All diese Gedanken, das war schon heavy.»
Dieser Text entstand aus der Erzählung von David.
«Die weniger tödliche Waffe»
Gummischrot wird in der Schweiz hauptsächlich bei Ausschreitungen an Sportveranstaltungen sowie an Demonstrationen eingesetzt, wobei die Munition aus kleinen, harten Kunststoffprismen oder -kugeln besteht. Werfer und die zugehörige Munition laufen unter der Rubrik «weniger tödliche Waffen». Michael Bettschen, Gesamteinsatzleiter der Kantonspolizei Bern sagt: «Gummischrot setzen wir ein, um Distanz zu schaffen zu einer womöglich gewalttätigen Gruppierung.» Der Gesamteinsatzleiter legt im Vorfeld die Strategie fest und koordiniert den Einsatz vor Ort.
Der Einsatz von Gummischrot muss wie jedes polizeiliche Handeln verhältnismässig sein. Verhältnismässigkeit bedeutet, dass die Polizei das für die Betroffenen mildeste Mittel einsetzen muss, welches das gewünschte Ziel erreicht. Gemäss Michael Bettschen gibt es drei Elemente, um die Verhältnismässigkeit zu beurteilen: «Braucht es diesen Mitteleinsatz? Wird das richtige Mittel verwendet? Wird es der Situation gerecht?»
Zielen erweist sich als schwierig
Grössere Schäden sollen vermieden werden, indem eine Mindestdistanz eingehalten wird und auf die Oberschenkel gezielt wird. Doch Beat P. Kneubuehl, ein Ballistiker, der für die Polizei Gutachten zu Gummischrot verfasst hat, sagt dazu: «Bei allen Gummischroten dieser Art ist im ganzen Distanzbereich bei einem Treffer mit dem Verlust des Auges zu rechnen.» Grund dafür sei die Streuung: «Der Streudurchmesser bei 20 Metern Distanz liegt zwischen drei und vier Metern.» 20 Meter ist die Mindestdistanz für die in der Schweiz am häufigsten verwendete Munition. Auch andere Munitionstypen streuen vergleichbar.
Dadurch können auch Menschen verletzt werden, die selbst nicht gewalttätig sind. Auch wenn die Polizei alle Vorschriften zum korrekten Einsatz von Gummischrot einhält, können irreversible Augenverletzungen auftreten. Dies kritisiert auch das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte: «Munition, die mehrere Projektile auf einmal abfeuert, ist ungenau und kann den Prinzipien von Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit grundsätzlich nicht entsprechen.» Dennoch setzt die Schweizer Polizei flächendeckend auf Gummischrot.
«Die Steine wären nicht geflogen, wenn wir nicht Gummi gegeben hätten»
In der Vergangenheit ist es bereits zu mehreren umstrittenen Gummischrot-Einsätzen gekommen. Eines der prominentesten Beispiele der letzten Jahre ereignete sich im November 2018. An einer unbewilligten Kundgebung der Gruppierung «Basel Nazifrei» gegen eine Demonstration rechter Gruppierungen setzte die Polizei Basel-Stadt Gummischrot ein. Wie Recherchen der beiden Onlinemagazine «Bajour» und «Republik» aufgedeckt haben, wurde der Gummischrot-Einsatz an dieser Demonstration auch von der Polizei intern kritisiert und sorgte im Nachgang für ein Medienecho. So hört man in einem geleakten Video, wie sich die Polizisten nach dem Einsatz austauschen: «Die Steine wären nicht geflogen, wenn wir nicht Gummi gegeben hätten.» Ein anderer Polizist fragt: «Haben sie zuerst Gummi gegeben?», worauf ein weiterer Polizist sich einschaltet: «Das finde ich heikel, muss ich ganz ehrlich sagen.» Laut «Republik» flogen in weniger als 90 Sekunden etwa 1500 Gummischrotprismen auf die Demonstrierenden.
Ein weiterer Fall ereignete sich am 8. März 2023 in Basel an einer unbewilligten Kundgebung zum internationalen Frauentag: Ein Video, das in den Sozialen Medien kursierte, zeigt, wie Demonstrierende im Polizeikessel mit einem Transparent auf Polizisten zulaufen, wie dann die Polizeikette auf Demonstrierende zurennt, ihnen Transparente wegreisst und aus nächster Nähe Gummischrot abfeuert. Es scheint, als ob die Mindestdistanz nicht eigehalten wurde. Diese darf nur bei Notwehr unterschritten werden. Ob es sich bei diesem Beispiel um Notwehr handelte, ist schwer zu sagen. Letztendlich entscheidet die Polizei, wann sie sich so bedroht fühlt, dass Notwehr gerechtfertigt ist.
Wie gefährlich ist Gummischrot?
Die Polizeistrategie in der Schweiz beruht darauf, dass, wenn immer möglich, ein Abstand zwischen Polizeiketten und potentiell gewalttätigen Menschenmassen aufrechterhalten wird. Dies, um keinen Nahkampf führen zu müssen. So sagt Mark Burkhard, Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandantinnen und – kommandanten der Schweiz (KKPKS), er sehe zwar Wege mit körperlichem Zwang, also Nahkampf mit Schlagstöcken, doch dies führe zu vielen schweren Verletzungen auf beiden Seiten.
In der Schweiz gibt es jedoch keine öffentliche Datensammlung zu Gummischrot-Einsätzen und Verletzungen. Wie oft und unter welchen Umständen der Einsatz erfolgt, wird laut Jurist Tim Willmann höchstens polizeiintern erhoben. Jedoch nicht in allen Polizeikorps. Er kritisiert diese Vorgehensweise und plädiert für eine grundlegende Datenerfassung: «Was sind die Gründe für einen Einsatz, wie viele Verletzungen hat es gegeben, und was war der polizeiliche Auftrag für den Einsatz?» Ausserdem sagt Willmann, dass ein wirklicher Vergleich zwischen verschiedenen Einsatzmitteln ohne umfassende Datensammlung nicht möglich sei.
Wie weiter?
Die Stadt Zürich überprüft derweil den Einsatz von Gummischrot generell. Bei der unbewilligten Demonstration am 1. Mai 2023 in Zürich wurde eine Person schwer am Auge verletzt. Sie befand sich in einem Kessel auf dem Kanzleiareal. Der Vorfall führte zu einer Diskussion um das Einsatzmittel Gummischrot . Gemäss Willmann sollte es das Ziel sein, zukünftig auf einen Ordnungsdienst ohne Gummischrot hinzuarbeiten, wie es viele andere Länder heute schon tun. Dagegen wehrt sich Mark Burkhard, Präsident der KKPKS: «Es kann nicht sein, dass der Polizei Mittel weggenommen werden und gewalttätige Demonstranten die Oberhand haben.» Für eine Zukunft ohne Streumunition müssten aber Alternativen sorgfältig überprüft werden. In diesem Punkt gibt Jurist Willmann dem Polizeikommandanten Burkhard recht.