Seit Wochen hat sich Atiqullah auf den heutigen Tag gefreut. «Gestern hat es wieder geschneit. Und das ist jetzt brutal, wenn wir nach oben gehen», sagt der 17-jährige Afghane. Mit knapp drei Dutzend weiteren Jugendlichen geht es ins Skigebiet Laax GR. Das Ziel: Snowboarden lernen.
Hinter dem Projekt steht die «Chill Foundation». Das Programm richtet sich an 11- bis 19-Jährige in schwierigen Lebenssituationen. Viele unter ihnen sind sogenannte UMAs – unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Sie kommen aus Afghanistan, aber auch aus Syrien, der Ukraine oder aus Somalia.
Auch Atiqullah kam einst alleine in die Schweiz. Darauf ansprechen dürfen wir ihn nicht – der Spass soll heute im Vordergrund stehen. Neben dem Snowboarden vermittelt das Programm den Jugendlichen auch Werte wie Respekt und Geduld. Einander helfen, nicht aufgeben – das wollen die Trainer vermitteln.
Nach wenigen Stunden auf dem Brett kommen die ersten Fortschritte. Die Jugendlichen merken aber: Schneesport geht ordentlich in die Beine. Atiqullah bereitet besonders die Fahrt mit dem Lift Mühe – immer wieder fällt er hin. Doch er steht jeweils wieder auf – ohne eine Miene zu verziehen.
«Diese Kinder haben keine Angst», sagt Snowboard-Lehrerin Michaela Schmid. Sie ist Koordinatorin des Programms von «Chill» in der Schweiz. Die Arbeit mit den UMAs sei anders als mit anderen Jugendlichen. Man müsse immer froh sein, wenn es am Ende des Tages keinen Unfall gegeben habe.
Diese Kinder haben keine Angst. Das ist anders als beim Snowboard-Unterricht mit anderen Jugendlichen.
Als besonders motiviert und lernwillig fällt Naweed auf. Der 18-Jährige ist ebenfalls aus Afghanistan. Immer wieder stellt er sein Brett senkrecht und saust talabwärts.
Den mahnenden Worten des Trainers, dass er es nicht übertreiben sollte, lauscht Naweed zwar aufmerksam, doch das Gesagte bleibt nur kurz haften – bis zur nächsten Fahrt.
Es geht auch um Nachwuchsförderung
36 Jugendliche sind dieses Jahr im Programm dabei. 2021 brachte die Gründerin Donna Carpenter die Idee aus den USA in die Schweiz. «Chill» könne dabei helfen, die Kinder in die Kultur zu integrieren. «Wir Snowboarder sind eine Familie», sagt Carpenter.
Für Laax geht es auch um Nachwuchsförderung. Wie Snowboard-Kleidermarken und andere Gönner unterstützt das Skigebiet das Projekt. Mit der zunehmend multikulturellen Gesellschaft ist die Rekrutierung junger Snowboarderinnen und Snowboarder nicht leichter geworden.
Da finde ich schon, dass wir uns als Gesellschaft ein bisschen selber an der Nase nehmen müssen.
Der Leiter der Snowboardschule fordert – nicht ganz selbstlos – auch mehr Engagement der Öffentlichkeit. Da müsse sich die Gesellschaft ein bisschen «selber an der Nase nehmen». Dazu gehöre, einen «gewissen Mut» zu haben und «Geld zu investieren», um den Sport den Kindern näherzubringen, so Ivan Capaul.
Der grosse Traum
Bei der Gruppe des «Chills»-Programms scheint das gelungen. Stolz präsentieren die Jungs am Ende des Tages ihre Fortschritte. Mut und Selbstvertrauen brauchen sie auch für das Leben abseits der Piste.
Viele von ihnen beginnen bald eine Berufslehre. Der 19-jährige Mohammad – ebenfalls aus Afghanistan – erzählt auf der Rückfahrt nervös von seinem baldigen Vorstellungsgespräch zur Ausbildung als Sanitär.
Wenngleich keineswegs sicher ist, wie oft Mohammad und die anderen in den nächsten Jahren die Möglichkeit haben werden, den teuren Snowboard-Sport auszuüben: Die Jugendlichen haben einen Traum. Möglichst häufig in die Berge zu kommen.