Nach mehr als einem Jahr Geiselhaft im Gazastreifen sind israelische Frauen am Sonntag freigekommen. Welche Folgen die monatelange Geiselhaft für die Betroffenen haben könnte, erklärt Petra Ramsauer. Die frühere Kriegsberichterstatterin arbeitet jetzt als Therapeutin und spezialisiert sich auf Traumata.
SRF News: Was bedeutet es für die Betroffenen, eine solche Geiselhaft erlebt zu haben?
Petra Ramsauer: Am schlimmsten ist in dieser Situation – neben der ständigen Todesangst – der totale Kontrollverlust. Die Frauen konnten nichts selber entscheiden: Nicht, wann sie essen, sich waschen oder auf die Toilette gehen wollten.
Die Frauen standen ständig unter immensem Druck – ohne zu wissen, wann und was als Nächstes passieren würde.
Das ist eine äusserst prägende Erfahrung, vor allem, wenn sie über eine so lange Zeit andauert. Die Frauen haben womöglich auch erlebt, wie andere Geiseln verschwunden sind. Manche wurden freigelassen, andere ermordet. Die Frauen standen also ständig unter einem immensen Druck – ohne zu wissen, wann und was als Nächstes passieren würde.
In ihrer Arbeit als Therapeutin spezialisieren Sie sich auf Traumata – wie könnte sich bei den nun freigelassenen Geiseln in Israel ein Trauma zeigen?
Ein Trauma zeigt sich grundsätzlich darin, dass man nicht realisiert, dass etwas vorbei ist. Das Gefühl kann durch Trigger wie Gerüche oder Geräusche jederzeit wiederentstehen. Kommt hinzu: Während einer so langer Geiselhaft entsteht auch irgendeine Form der «Bindung» an die Geiselnehmer. Man muss sich ihnen in jeder Situation anpassen, um zu überleben.
Womöglich kommt den zurückgelassenen Geiseln gegenüber ein Schuldgefühl auf.
Dies alles muss jetzt verarbeitet werden. Es ist eine Mischung aus totaler Todesangst und Erleichterung über das Freikommen – und womöglich kommt ein Schuldgefühl dafür hinzu, dass man selber lebend herausgekommen ist, andere Geiseln aber umgekommen oder in Geiselhaft zurückgeblieben sind.
Was ist das Wichtigste, damit die Geiseln das Erlebte verarbeiten können?
Israels Gesundheitssystem hat für solche Fälle ein spezialisiertes Behandlungszentrum – oder entsprechende Behandlungen vorbereitet. Zunächst geht es für die Freigelassenen nun um die Rückgewinnung der Kontrolle über ihr Leben.
Die Frauen müssen die Macht über ihr eigenes Leben zurückerlangen.
Jede Entscheidung muss jetzt selber getroffen werden: Wann und was essen, wann und was trinken – die drei Frauen müssen die Macht über ihr eigenes Leben zurückerlangen. Essenziell ist auch, sich wieder sicher zu fühlen. Das ist angesichts der derzeitigen Situation im Nahen Osten allerdings nicht ganz einfach.
Sie haben in Israel mit einer Psychoanalytikerin gesprochen, die ehemalige Geiseln betreut. Was sagt sie?
Sie hat vor allem darauf hingewiesen, dass man individuell mit den Betroffenen arbeiten muss. Es gibt also kein allgemeingültiges Behandlungsschema. Jede Person braucht eine persönliche Betreuung. Wichtig ist dabei viel Geduld und die Unterstützung durch ihre Familie – denn die Betroffenen leiden oft unter Albträumen oder plötzlichen emotionalen Ausbrüchen. Essenziell ist die Vermittlung von Sicherheit, Stabilität und der Wahlfreiheit für ihr Leben. Die Betroffenen müssen das Gefühl haben, dass ihnen niemand reinredet und dass sie gesund werden dürfen, ohne irgendwelchen Normen entsprechen zu müssen.
Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.