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450 Tage in Geiselhaft «Die freigelassenen Geiseln müssen ihr Leben zurückerlangen»

Nach mehr als einem Jahr Geiselhaft im Gazastreifen sind israelische Frauen am Sonntag freigekommen. Welche Folgen die monatelange Geiselhaft für die Betroffenen haben könnte, erklärt Petra Ramsauer. Die frühere Kriegsberichterstatterin arbeitet jetzt als Therapeutin und spezialisiert sich auf Traumata.

Petra Ramsauer

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Petra Ramsauer arbeitet als Therapeutin und spezialisiert sich auf Traumata. Die geborene Wienerin hat für österreichische Medien während Jahren aus diversen Krisengebieten berichtet, unter anderem aus Syrien und dem Irak.

SRF News: Was bedeutet es für die Betroffenen, eine solche Geiselhaft erlebt zu haben?

Petra Ramsauer: Am schlimmsten ist in dieser Situation – neben der ständigen Todesangst – der totale Kontrollverlust. Die Frauen konnten nichts selber entscheiden: Nicht, wann sie essen, sich waschen oder auf die Toilette gehen wollten.

Die Frauen standen ständig unter immensem Druck – ohne zu wissen, wann und was als Nächstes passieren würde.

Das ist eine äusserst prägende Erfahrung, vor allem, wenn sie über eine so lange Zeit andauert. Die Frauen haben womöglich auch erlebt, wie andere Geiseln verschwunden sind. Manche wurden freigelassen, andere ermordet. Die Frauen standen also ständig unter einem immensen Druck – ohne zu wissen, wann und was als Nächstes passieren würde.

In ihrer Arbeit als Therapeutin spezialisieren Sie sich auf Traumata – wie könnte sich bei den nun freigelassenen Geiseln in Israel ein Trauma zeigen?

Ein Trauma zeigt sich grundsätzlich darin, dass man nicht realisiert, dass etwas vorbei ist. Das Gefühl kann durch Trigger wie Gerüche oder Geräusche jederzeit wiederentstehen. Kommt hinzu: Während einer so langer Geiselhaft entsteht auch irgendeine Form der «Bindung» an die Geiselnehmer. Man muss sich ihnen in jeder Situation anpassen, um zu überleben.

Womöglich kommt den zurückgelassenen Geiseln gegenüber ein Schuldgefühl auf.

Dies alles muss jetzt verarbeitet werden. Es ist eine Mischung aus totaler Todesangst und Erleichterung über das Freikommen – und womöglich kommt ein Schuldgefühl dafür hinzu, dass man selber lebend herausgekommen ist, andere Geiseln aber umgekommen oder in Geiselhaft zurückgeblieben sind.

Hochkomplexer Gefühlscocktail

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In Todesgefahr gibt es normalerweise vier Möglichkeiten: Flüchten, Kämpfen, Erstarren in Todesangst oder das Anbiedern an die Geiselnehmer – man versucht, mit ihnen zu verhandeln, um die Situation zu überleben. «Daraus entsteht ein kompliziertes Beziehungsgeflecht», sagt die Therapeutin Ramsauer: Einerseits bedrohen die Geiselnehmer mein Leben – und mein Land Israel –, gleichzeitig versorgen sie mich mit Essen. Und nicht zuletzt sind die Geiselnehmer selber angesichts der monatelangen Bombardierungen des Gazastreifens durch die israelische Armee selber ebenfalls in Lebensgefahr. «Da kommt ein hochkomplexer Gefühlscocktail zusammen, das schwer zu verdauen ist», so Ramsauer.

Was ist das Wichtigste, damit die Geiseln das Erlebte verarbeiten können?

Israels Gesundheitssystem hat für solche Fälle ein spezialisiertes Behandlungszentrum – oder entsprechende Behandlungen vorbereitet. Zunächst geht es für die Freigelassenen nun um die Rückgewinnung der Kontrolle über ihr Leben.

Die Frauen müssen die Macht über ihr eigenes Leben zurückerlangen.

Jede Entscheidung muss jetzt selber getroffen werden: Wann und was essen, wann und was trinken – die drei Frauen müssen die Macht über ihr eigenes Leben zurückerlangen. Essenziell ist auch, sich wieder sicher zu fühlen. Das ist angesichts der derzeitigen Situation im Nahen Osten allerdings nicht ganz einfach.

Sie haben in Israel mit einer Psychoanalytikerin gesprochen, die ehemalige Geiseln betreut. Was sagt sie?

Sie hat vor allem darauf hingewiesen, dass man individuell mit den Betroffenen arbeiten muss. Es gibt also kein allgemeingültiges Behandlungsschema. Jede Person braucht eine persönliche Betreuung. Wichtig ist dabei viel Geduld und die Unterstützung durch ihre Familie – denn die Betroffenen leiden oft unter Albträumen oder plötzlichen emotionalen Ausbrüchen. Essenziell ist die Vermittlung von Sicherheit, Stabilität und der Wahlfreiheit für ihr Leben. Die Betroffenen müssen das Gefühl haben, dass ihnen niemand reinredet und dass sie gesund werden dürfen, ohne irgendwelchen Normen entsprechen zu müssen.

Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.

SRF 4 News aktuell, 21.1.2025, 8:25 Uhr ; 

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