Auch nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg nicht vorbei: In Asien wurde weiter gekämpft. Weite Teile Mitteleuropas waren besetzt, Hunderttausende Soldaten harrten in Kriegsgefangenschaft aus. Viele Menschen waren auf der Flucht und litten Hunger.
SRF News: Christian Gerlach, vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Seither ist viel darüber geforscht und geschrieben worden. Welches ist Ihr Blick auf den Krieg?
Christian Gerlach: Ich interessiere mich im Speziellen für die Opfer – für die Zivilisten, die Hungernden, die Flüchtlinge, diejenigen, die unter Besatzung und in Kolonien lebten. Während des Zweiten Weltkrieges wurde viel Unheil angerichtet, durch die besonders grossen Heere und die wirtschaftliche Mobilisierung. Es gab viele Kriegsgefangene und bemerkenswert ist auch, wie viele Menschen am Krieg aktiv beteiligt waren – und die imperialistischen Ziele der Herrschenden mittrugen und beeinflussten.
Bemerkenswert ist, wie viele Menschen die imperialistischen Ziele der Herrschenden mittrugen.
Wie hat es überhaupt so weit kommen können?
Der Zweite Weltkrieg war ein Krieg, der aus aggressivem Nationalismus und Rassismus entstand – angefeuert durch wirtschaftliche Schwierigkeiten in den 1920er- und 1930er-Jahren. Nach dieser Krise waren grosse Bevölkerungsgruppen stark verschuldet, und viele glaubten, die Lösung sei, im Inland gewisse Gruppen auszugrenzen, sich gegenüber dem Ausland abzuschotten und um Rohstoffe und Märkte Krieg zu führen.
Wer trägt die Hauptschuld am Zweiten Weltkrieg?
Die Industriestaaten Deutschland, Japan und Italien wollten ihre Herrschaftsgebiete ausdehnen und so die Selbstversorgung des eigenen Landes auf Kosten besetzter oder kolonialisierter Gebiete erreichen. Aber auch andere Grossmächte und kleinere Staaten strebten nach Gebietsgewinnen und grösseren Interessenzonen, viele mit Erfolg. Es lässt sich auch nicht sagen, wer den Zweiten Weltkrieg wann genau ausgelöst hat. Denn er bestand aus einer Vielzahl von regionalen Konflikten, die zu einem globalen Konflikt zusammenwuchsen.
Oft wird der 1. September 1939 als Kriegsbeginn genannt – mit dem Überfall Polens durch die deutsche Wehrmacht.
Das ist eine eurozentrische Sichtweise. Eine wichtige Jahreszahl ist 1937 – mit dem Beginn des japanisch-chinesischen Krieges. Mit dem japanischen Angriff gingen eine Intensivierung der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und sehr viele Flüchtlinge einher. Allein China verzeichnete während des Zweiten Weltkrieges 80 Millionen Flüchtlinge.
Der aggressive Nationalismus wurde nicht von den Nazis erfunden, aber benutzt.
In Europa hiess es nach dem Kriegsende umgehend: Deutschland, oder noch präziser: Nazi-Deutschland sei für die Katastrophe verantwortlich – mit seinem Grossmacht-Streben und dem Rassenwahn.
Der aggressive Nationalismus wurde nicht von den Nationalsozialisten erfunden, aber benutzt. Und es ist auch zu einfach, Deutschland für alles verantwortlich zu machen. Aber Deutschland besetzte ein Dutzend Länder und vernichtete 12 bis 14 Millionen Menschen ausserhalb von Kampfhandlungen.
Neu war bei der Judenverfolgung, mit welcher Konsequenz die Deutschen die Ermordung der Juden verfolgten.
Andere Länder tragen eine Mitverantwortung, auch bei der Juden-Verfolgung, das hat die historische Forschung hinlänglich nachgewiesen. Trotzdem: «Die Endlösung der Judenfrage» wurde in Nazi-Deutschland ausgedacht.
Gewiss. Ganze Volksgruppen auszurotten, das hatte es schon früher gegeben – während der europäischen Kolonialherrschaft zum Beispiel, mit verschiedenen Akteuren. Neu war bei der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkrieges, mit welcher Konsequenz die Deutschen die Ermordung der Juden verfolgten.
Nach einem Krieg ist die Welt eine andere: Wie hat der Zweite Weltkrieg die Welt verändert?
Ein wesentliches Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war ein Schub zur Entkolonialisierung. Es entstand eine Welt von Nationalstaaten. Die Vereinten Nationen sind ein Symbol für beides: Nationen-übergreifende Zusammenarbeit und Nationalismus, immerhin eine der Wurzeln des Zweiten Weltkrieges. Die Nation ist bis heute eine bestimmende Grösse in der Weltpolitik wie auch im Leben und Denken der Menschen.
Das Gespräch führte Michael Gerber.