Seit der gezielten Tötung von Hamas-Chef Ismael Hanija und eines führenden Hisbollah-Kommandanten durch Israel ist die Lage in Nahost äusserst angespannt. Iran und die schiitische Miliz in Libanon haben Vergeltung angekündigt. SRF-Nahostspezialistin Susanne Brunner schildert die Stimmung im Norden Israels.
SRF News: Wie zeigt sich die Spannung und Nervosität wegen der angedrohten Vergeltung im Alltag in Israel?
Susanne Brunner: In Jerusalem wirkt auf den ersten Blick alles normal. Die Cafés sind tagsüber voll, das Tram auch, die Läden sind geöffnet. Was auffällt: Es hat keine Touristen. Jetzt, mitten in der Hochsaison, ist die Altstadt menschenleer. Und abends sind weniger Menschen auf der Strasse, viele Läden schliessen früher als normal.
Und wie ist es im Norden des Landes?
Hier fällt auf, wie wenig Autos unterwegs sind. Meine Unterkunft ist verstaubt – aber der Besitzer spricht nicht über die Anspannung vor einem nächsten Angriff, sondern über die miserable Wirtschaftslage. Wenn man mit den Leuten spricht, drücken sie eher Trauer und Unsicherheit aus als Angst vor dem erwarteten Grossangriff. Es ist eine Angst vor der Zukunft. Davor, was als Nächstes kommt.
In den Läden kaufen die Leute auffällig viel Wasser, auch Energieriegel sind gefragt.
Wie bereiten sich die Menschen auf die angedrohten Militärschläge vor?
In der Hafenstadt Haifa, die als mögliches Ziel der Hisbollah-Raketen gilt, werden Luftschutzräume bereit gemacht. Das GPS ist gestört, die Ortungsdienste funktionieren nicht. Die Geldautomaten wurden aufgefüllt – und die Regierung sagt, es sei genug Bargeld vorhanden. In den Läden kaufen die Leute auffällig viel Wasser, auch Energieriegel sind gefragt. Und manche Leute kaufen gar nichts – sie sagen, sie seien müde ob der ständigen Drohungen – und machen könnten sie sowieso nichts.
Wie ist die Stimmung in den Quartieren der arabisch-palästinensisch-Stämmigen, die rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen?
Zwischen der jüdischen und der arabisch-palästinensischen Bevölkerung gibt es grosse Unterschiede. In Kafr Jasif, einer mehrheitlich arabischsprachigen Stadt rund 20 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt, gibt es etwa keinen öffentlichen Luftschutzraum, die meisten Häuser sind alt. In den jüdischen Ortschaften dagegen gibt es überall Luftschutzräume. Trotzdem sind in arabischen Stadtteilen und Ortschaften mehr Menschen auf der Strasse als in jüdischen Quartieren.
Was hört die israelische Bevölkerung von der Regierung?
Zuletzt liess Premier Benjamin Netanjahu verlauten, dass sich die Bevölkerung ruhig verhalten solle. Viel mehr gab es in den vergangenen Tagen nicht zu hören von der Regierung. Lokale Behörden sind aktiver: Im Norden Israels wird dazu geraten, nur ins Auto zu steigen, wenn es wirklich nötig ist, nicht zu weit zu fahren, und nicht während es dunkel ist. Einige haben mir in den letzten Tagen gesagt: Sie wüssten gar nicht, worauf sie sich einstellen müssten.
Es herrscht so etwas wie Alltag, wenn auch mit angezogener Handbremse.
Wie ist die Stimmung in Israel – verglichen mit früheren Besuchen im Land?
Unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober war die Stimmung viel beängstigender als jetzt. Damals herrschte tagelanges Chaos im Land, bevor auch die letzten Hamas-Terroristen getötet oder zurück in den Gazastreifen getrieben wurden. Niemand schien zu wissen, was wirklich los war. Damals waren die Strassen völlig menschenleer. Jetzt herrscht so etwas wie Alltag, wenn auch mit angezogener Handbremse. Die Angst ist zur Normalität geworden. Und weil dieser Zustand nicht normal ist, ist er so bedrückend.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.