Russland hat den Druck auf die Ukraine mit Raketenbeschuss auf Kiew erhöht. Zerstört worden sind nach russischen Angaben von osteuropäischen Ländern gelieferte Panzer und andere Militärtechnik. Zudem habe man am Samstag bei Sumy ein ukrainisches Zentrum zur Schulung von Artilleristen an westlicher Waffentechnik getroffen. Benno Zogg vom Center for Security Studies an der ETH Zürich zur strategischen Bedeutung solcher Angriffe.
SRF News: Am frühen Sonntagmorgen startete die russische Armee ihren ersten grösseren Angriff auf Kiew seit Wochen. Was bezweckt Russland damit?
Benno Zogg: Der Raketenangriff hatte wohl zwei Ziele. Einerseits ein symbolisches, um die Ukraine daran zu erinnern, dass trotz eines Teilrückzugs der russischen Truppen und dem Scheitern der ersten Kriegsphase die russische Armee nach wie vor die Möglichkeit hat, jederzeit jeden Ort in der Ukraine zu treffen. Die Ukraine soll dadurch eingeschüchtert werden.
Die Unterbindung westlicher Militärlieferungen ist zentral, um die ukrainische Kampfkraft an der Front zu schwächen.
Zweitens zielten die Raketen wohl auf Nachschublinien, die für die Ukraine wichtig sind. Der Kreml hatte immer erklärt, Nachschublinien westlichen Militärmaterials für legitime Ziele zu halten. Dabei war offen gelassen worden, ob sogar Nachschubkonvois ausserhalb der Ukraine Ziel sein könnten.
Mit den Angriffen wurden gezielt vom Westen gelieferte Waffen zerstört. Könnte diese Taktik für Russland aufgehen?
Die Unterbindung westlicher Militärlieferungen ist zentral, um die ukrainische Kampfkraft an der Front zu schwächen. Die westliche Unterstützung hält den Widerstand am Leben, denn die ukrainische Rüstungsindustrie ist grösstenteils zerstört und das Arsenal erschöpft.
Analysten hatten sich erstaunt gezeigt, dass die Nachschublinien innerhalb der Ukraine nicht stärker im Fokus russischer Fernwaffen standen. Diese Zurückhaltung könnte auf einen Mangel an Präzisionswaffen im russischen Arsenal und ein mangelhaftes Lagebild zurückzuführen sein. Sicher hat die Ukraine ihre Nachschubrouten diversifiziert und transportiert Material und Truppen vielleicht auch kleinteiliger, um keine einfache Zielscheibe zu sein.
In den letzten Wochen hat sich die russische Armee auf den Süden und Osten der Ukraine konzentriert. Stellt der Angriff auf Kiew einen Strategiewechsel dar?
Die militärischen Ziele der russischen Truppen bleiben im Süden und Osten der Ukraine. Dies aus Notwendigkeit, da die Offensive in ihrer ersten Phase gescheitert war und der Vorstoss auf Kiew abgebrochen wurde. Die Nachschublinien an diese Front abzuklemmen, soll direkt den russischen Vormarsch begünstigen.
Luftschläge auf dem ganzen ukrainischen Staatsgebiet sind nicht neu. Entsprechend ist das kein russischer Strategiewechsel.
Wir erinnern uns, dass die russischen Truppen selbst die Wichtigkeit von Nachschublinien gespürt haben, als sie bei Angriffen im Norden und Nordosten feststeckten. Luftschläge auf dem ganzen ukrainischen Staatsgebiet sind aber nicht neu. Entsprechend ist das kein russischer Strategiewechsel, bestenfalls eine leichte Verschiebung der Taktik.
Im Osten der Ukraine tobt ein regelrechter Häuserkampf. Was könnte die Wende bringen?
In der Ostukraine wird um fast jeden Meter gekämpft. Beide Seiten setzen auf schwere Feuerkraft. Besonders Russland nimmt in Kauf, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen. Häuserkampf gilt als besonders verlustreiche Kampfform, die dem Verteidiger Vorteile bietet. Daher wird das aus russischer Sicht möglichst vermieden. Eine entscheidende Wende ist in der Ostukraine schwer denkbar. Vielmehr gilt die Logik des Abnutzungskampfs, der lange und schmerzhaft sein kann.
Das schriftliche Interview führte Laura Sibold.