Seit Wochen wird Peru von Protesten und gewaltsamen Zusammenstössen mit der Polizei heimgesucht. Mit der Absetzung von Präsident Pedro Castillo Anfang Dezember ist die Unruhe gestiegen. Die Protestierenden riefen Mitte Woche zum unbefristeten Streik auf und fordern die Absetzung von Interims-Präsidentin Dina Boluarte sowie sofortige Neuwahlen. Journalistin Hildegard Willer ordnet ein.
SRF News: Warum ist die politische Lage in Peru dermassen instabil?
Hildegard Willer: Von 1990 bis 2000 war Alberto Fujimori mit einem relativ autokratischen Regime an der Macht, das zudem hochkorrupt war. Im demokratischen Frühling brachten drei Präsidenten ihre Mandate zu Ende. 2018 kam Präsident Pedro Pablo Kuczynski mit seinem Rücktritt einem Amtsenthebungsverfahren zuvor. Eine Ursache für die Instabilität ist die Korruption. Alle Präsidenten des demokratischen Aufbruchs, aber auch jene, die nur ein Jahr oder weniger regierten, sind der Korruption angeklagt und teils im Gefängnis. Das erodiert eine Demokratie, die an sich nicht besonderes stabil ist.
Wenn sich die Vorfälle um die Präsidenten häufen – liegt es an den Personen oder am System?
Es ist systemisch. Peru hat einen modernen Sektor in der Hauptstadt Lima. Daneben gibt es aber Andendörfer, die wie im 19. Jahrhundert leben. Zugleich hat Peru vor allem im Süden eine grosse indigene Bevölkerung, die bei den Protesten an erster Front steht. Doch eine indigene Bewegung wie in Ecuador oder Bolivien fehlt. Dies ist ein Grund dafür, dass es keinen politischen Kanal gibt für die Unzufriedenheit wegen der materiellen Ungleichheit, aber auch aufgrund einer grossen Diskriminierung.
Wie könnte Peru langfristig Stabilität erreichen?
Langfristig ist die Frage, ob eine neue Verfassung helfen würde, wie dies vor allem linke Kreise und der Grossteil der Demonstrierenden fordern: Eine nach deren Auffassung weniger unternehmerfreundliche und staatsfreundlichere Verfassung nach chilenischem Vorbild. Ob das etwas ändern würde, ist umstritten. Die einen sehen dadurch Perus wirtschaftliches Erfolgsmodell bedroht, für die anderen schafft dieses Modell die Ungleichheit.
Um punktuelle Reformen steht es im Kongress schlecht. Auch eine verfassungsgebende Versammlung hätte aktuell keine Chance.
Einfacher und schneller umsetzbar wären Wahlreformen – etwa, dass Parlamentsmitglieder wiedergewählt werden können und wieder ein Zweikammer-System eingeführt wird. Oder, dass Primärwahlen in den Parteien verpflichtend sind, um so die Qualität der Kandidaten für den Kongress zu stärken. Auch die Wahlfinanzierung müsste reformiert werden. Doch um diese punktuellen Reformen steht es im jetzigen Kongress schlecht. Auch eine verfassungsgebende Versammlung hätte aktuell keine Chance.
Was heisst das für Peru, wenn der Kongress weiterhin nur politische Selbsterhaltung betreibt?
Zu befürchten ist ein Dauerstreik. Die Lage kann sich noch zuspitzen, wenn es weitere Tote gibt. Die Menschen vor allem im Süden sind extrem wütend. Es hängt auch davon ab, wie Polizei und Militär reagieren. Mit dem repressiven Vorgehen gab es vor Weihnachten 28 Tote. Die Forderung der Demonstrierenden: Die Interims-Präsidentin soll abtreten und 2023 Neuwahlen ausrufen. Dazu muss es nach meiner Einschätzung unabhängig von Reformen kommen, denn der Druck ist zu gross. Auch die finanziellen Einbussen im Tourismus machen sich bereits bemerkbar.
Das Gespräch führte Christine Scheidegger.