Im Kosovo herrscht Konsternation: Eine Anklage wegen Kriegsverbrechen gegen ein amtierendes europäisches Staatsoberhaupt gab es seit Slobodan Milosevic 1999 nicht mehr. Obwohl Hashim Thaci bei vielen Kosovaren unbeliebt ist, so spüren doch auch seine Gegner: Das ist eine schlechte Nachricht für den Kosovo.
Am 27. Juni sollten sich die Präsidenten von Serbien und Kosovo in Washington zu Gesprächen treffen. Doch diese Anklage schwächt die Verhandlungsposition des Kosovo im Weissen Haus in hohem Mass. Inzwischen hat Thaci seine Reise nach Washington offenbar gar abgesagt.
Steckt politisches Kalkül dahinter?
Viele Beobachter im Kosovo vermuten, dass politisches Kalkül hinter dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anklage steckt. Zumal die Anklage offenbar schon im April fertig war. Einer, der so denkt, ist der kosovarische Rechtsprofessor und Analyst Vigan Qorolli. «Das ist ein Druck auf die Stopptaste für das politische Leben im Kosovo», meint er. In Washington soll ja ein Gebietsabtausch zwischen Serbien und Kosovo besprochen werden. Die EU war immer dagegen, auf dem Balkan Grenzen zu verschieben.
Die USA hatten die EU schnöde übergangen und blossgestellt, als sie die Gespräche in Washington anberaumten. Die Anklage könnte der europäische Gegenzug sein, mutmassen viele. Doch so einfach ist die Sache kaum. Der Internationale Strafgerichtshof dürfte nur Anklage erheben, wenn er solide Beweise und Zeugen hat.
Thaci demonstrierte Verachtung für Demokratie
Seine ehemaligen Mitstreiter im Kosovo-Krieg sagen, Thaci sei unschuldig. Doch sie haben wenig Glaubwürdigkeit. So erklärte Ex-Premierminister Ramush Haradinaj: «Das kosovarische Volk hat rechtmässig für seine Freiheit gekämpft nach heftiger Unterdrückung durch Serbien. Das Resultat war Freiheit und die Errichtung der Republik Kosovo.»
Auch wenn diese Anklage die Republik Kosovo in eine äusserst schwierige Situation bringt, so könnte sie auch die Chance für eine historische Wende zum Besseren sein. Denn der jetzt angeklagte Hashim Thaci war es, der die Regierung von Albin Kurti, den Wahlsieger vom letzten Herbst, mit äusserst fragwürdigen und undurchsichtigen Winkelzügen stürzen liess. Damit demonstrierte er ganz offen seine Verachtung für die Demokratie.
Der Kosovo vor einem Neuanfang?
Falls das Kosovo-Spezialgericht in Den Haag Thaci verurteilen sollte, dann wäre der Weg frei für einen Neuanfang. Für einen Präsidenten (oder eine Präsidentin), der oder die nicht mit Tricks eine demokratisch gewählte Regierung aushebelt.
Dann dürfte sich auch im Kosovo die Einsicht durchsetzen, dass ein Mann mit dem zweifelhaften Ruf von Thaci – egal, was seine Verdienste auch sein mögen – nicht geeignet ist, um das Oberhaupt eines europäischen Landes zu sein, das sich demokratisch nennen möchte.