ISIS-Chorason, ein regionaler Ableger der Terrororganisation Islamischer Staat, hat sich zu den blutigen Anschlägen in Kabul bekannt. Der Terrorismus-Experte Peter Neumann erklärt, wer hinter ISIS-K steckt und was sie wollen.
SRF News: Wer ist ISIS-K?
Peter Neumann: ISIS-K existiert in Afghanistan seit 2015. Das waren viele unzufriedene Anhänger der Taliban, für die die Taliban zu moderat waren. Sie haben sich dann in der Begeisterung für den Islamischen Staat 2014/15 entschlossen, eine eigene Gruppe zu gründen. Die ist vor allem im Nordosten des Landes um Kabul herum. Man schätzt 2500 bis 3500 Anhänger, die in den letzten Jahren vom Westen aggressiv bekämpft wurden.
Wie ist die Verbindung zwischen ISIS und ISIS-K?
Es ist vor allem eine Verbindung durch Personen. Es gibt Leute bei ISIS-K, die auch in Syrien und im Irak gekämpft haben. Sie sind die Verbindungsglieder zwischen der Zentralorganisation und dem Ableger in Afghanistan. Ich glaube aber nicht, dass die Befehle für Operationen aus Syrien oder dem Irak kommen. Das Wichtigste ist natürlich, dass die Ideologie des Kalifats identisch ist.
Warum bekämpfen sich die Taliban und der ISIS-K, obschon es beide sunnitische Extremisten sind?
Die Taliban wollen einen Gottesstaat für die Paschtunen, die in Afghanistan und ein bisschen in Pakistan sind. Sie haben keine globalen Ambitionen. Al-Kaida und ISIS sind Gruppen, die ein Kalifat, ein muslimisches Weltreich errichten wollen. Deswegen sind sie eine akute Bedrohung für den Westen im Gegensatz zu den Taliban. Zudem ist ISIS die einzige Organisation, die einen Alleinvertretungsanspruch hat.
ISIS-K verübt Anschläge in Kabul. Haben die Taliban nichts zu sagen in Afghanistan?
Bis vor einer Woche war die Befürchtung, die Taliban kontrollieren das ganze Land. Jetzt fragt man sich, sind sie dazu überhaupt in der Lage? Sind sie fähig, ihre eigene Herrschaft zu etablieren? Momentan sieht es eher nicht so aus.
Es gibt zwei Szenarien für Afghanistan. Das ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Es gibt zwei Szenarien für Afghanistan. Das ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder kontrollieren die Taliban irgendwann das Land. Oder – noch schlimmer – es gelingt ihnen nicht und grosse Teile des Landes versinken im Chaos. Dann werden Gruppen wie der IS die Möglichkeit haben, sich wieder zu organisieren.
Müssten die westlichen Staaten die Taliban unterstützen, um andere terroristische Organisationen zu verhindern?
Das ist das moralische und politische Dilemma. Im Prinzip müsste man ein Interesse daran haben, Afghanistan zu stabilisieren. Aber man möchte nicht zurückkommen und wieder fortfahren, womit man gerade aufgehört hat. Die einzige Alternative wäre, zu sagen, wir helfen den Taliban dabei, das Land zu kontrollieren.
Das ist ein moralisches Dilemma, weil die Taliban vielleicht nicht ganz so schlimm sind wie ISIS, aber dennoch eine islamistische Miliz sind.
Aber das ist ein moralisches Dilemma, weil die Taliban vielleicht nicht ganz so schlimm sind wie ISIS, aber dennoch eine islamistische Miliz sind, die Wertvorstellungen und politische Vorstellungen hat, die unseren diametral gegenüberstehen.
Wie gross schätzen Sie die Gefahr ein, dass Afghanistan wieder zum Hort des internationalen Terrorismus wird?
Das kommt auf die Entwicklung der nächsten Wochen und Monate an. Wenn die Taliban nicht in der Lage sind, das Land effektiv zu kontrollieren und es keine effektive Regierung sowie keine westliche Terrorismusbekämpfung wie bisher gibt, kann es gut sein, dass Organisationen wie Al-Kaida und ISIS wieder stärker werden. Das ist wohl auch die Strategie von ISIS. Sie versuchen Nährboden für Chaos zu schaffen, auf dem sie rekrutieren können und auf dem sie die Macht bekommen.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.