Daniel Burnside ist ein starker Mann. Seine Hände sind mit Farbe verschmiert. Seine Kleider auch. Er ist selbständiger Handwerker. Sein Gesicht wirkt müde. Seine Augen wandern unruhig umher und suchen Halt. Der Familienvater sitzt in seinem ungeheizten Wohnzimmer und ringt nach Worten: «An manchen Tagen bleibt die Heizung ausgeschaltet, oft mehrere Tage in Folge – bis ich wieder etwas Geld habe; bis ein Kunde seine Rechnung bezahlt hat. Auch den Strom schalte ich oft ab – und es bleibt dunkel hier drin.»
Verzichten. Nicht aufgeben. Weiterkämpfen. Das versucht Daniel Burnside Tag für Tag. Der 32-Jährige hat vor zwei Jahren sein eigenes Malergeschäft gegründet, in der Not. Um zu überleben: Während der Corona-Pandemie hatte er seine Anstellung als Maler verloren und stand vor dem Nichts.
Wenigstens geht mir die Arbeit nicht aus.
«Wenigstens geht mir die Arbeit hier nicht aus», geht ein Lächeln über sein Gesicht. Daniel Burnside lebt und arbeitet im nordenglischen Hartlepool – einer einst blühenden Industriestadt, in der viele Häuser inzwischen bröckeln und mehr als einen neuen Anstrich brauchen.
Millionen von Familien leben in Armut
«Es ist ein ständiger Überlebenskampf», sagt der vierfache Vater geradeheraus. Seine Kinder sind 13, 10, 8 und 4 Jahre alt. Um einigermassen über die Runden zu kommen, müsste er pro Monat umgerechnet 2200 Franken nach Hause bringen – rechnet der Familienvater vor. «In den meisten Monaten ist es weniger – und wir müssen oft mit der Hälfte auskommen.»
Daniel Burnside lebt mit seiner sechsköpfigen Familie an der Armutsgrenze. Diese liegt in Grossbritannien bei umgerechnet rund 19'000 Franken pro Jahr; was einem monatlichen Haushaltseinkommen von knapp 1600 Franken entspricht.
Im Wohnzimmer von Familie Burnside riecht es nach frischer Farbe. An der Wand stehen Farbkübel, daneben liegen Stofflappen mit Farbspuren und eingetrocknete Pinsel. Daniel Burnside ist im Sommer in dieses renovationsbedürftige 3-Zimmerhäuschen eingezogen – nachdem er sich von der Mutter der beiden jüngsten Kinder getrennt hat. «Ich bin mit dem Eigentümer befreundet. Er bot mir einen Deal an: Eine vergünstigte Monatsmiete von 450 Pfund gegen Renovationsarbeiten.» Daniel Burnside schlug ein – und renoviert nun in ruhigen Zeiten das Haus seines Vermieters. Er hatte keine andere Wahl: Er muss sparen, wo er kann.
Energiekrise verstärkt die Geldsorgen
Denn einen grossen Posten seines Haushaltsbudgets kann er kaum beeinflussen: Die Strom- und Gaspreise, die seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges sprunghaft steigen. Gegenwärtig bezahlt er umgerechnet 180 Franken für Strom, Gas und Wasser – was mehr als 10 Prozent seines Monatsbudgets entspricht. Und am 1. Oktober schlugen die Preise erneut auf. «Ich weiss nicht, wie ich das schultern kann», sagt Daniel Burnside leise.
Die vierjährige Esmae stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht einen Schokolade-Donut zu ergattern, der auf der Küchenablage liegt. Es ist später Nachmittag, kurz nach 17 Uhr. Sie ist soeben von ihrem Vater nach der Arbeit vom Kindergarten abgeholt worden. Daniel Burnside wäscht sich die Hände und sieht aus dem Augenwinkel, was seine jüngste Tochter tut.
110 Franken pro Woche für Essen und das Nötigste
Er lässt sie gewähren und rechnet vor, wie stark er beim Einkaufen aufs Geld schauen muss: Pro Woche bleiben ihm umgerechnet rund 110 Franken fürs Essen und das Nötigste – für seine sechsköpfige Familie. Da ist jeder Rabatt willkommen.
Seine Geldsorgen sind in den letzten Monaten stetig grösser geworden, weil die Teuerung seit dem Frühjahr stark angestiegen ist und im Moment bei zehn Prozent verharrt. Lebensmittel und Importprodukte sind teurer geworden, was viele Familien hart trifft. Ein Pint Milch (5.6 Deziliter), zum Beispiel, kostet 44 Prozent mehr als vor einem Jahr, hat das statistische Amt errechnet.
Die Bank of England versucht die Inflation zu bremsen, in dem sie den Leitzins in mehreren Schritten auf inzwischen 2.25 Prozent angehoben hat, auf den höchsten Stand seit 2008.
Die neue konservative Regierung von Liz Truss setzt dagegen auf neues Wachstum und hat am 23. September ein grosses Steuersenkungspaket ins Parlament gebracht – mit Folgekosten von umgerechnet 175 Milliarden Franken.
IWF: Britische Regierung soll Steuerpläne überprüfen
Truss ist überzeugt, dass tiefere Steuern neue Investitionen auslösen und höhere Löhne bringen werden – was die Steuerausfälle wieder ausgleiche. Viele Ökonomen und Anleger sind anderer Ansicht: Das britische Pfund ist ins Trudeln geraten. Und die Bank of England musste im grossen Stil Staatsanleihen aufkaufen, um Pensionsfonds vor dem Absturz zu bewahren.
Dem Internationale Währungsfonds machte dies Sorgen: Er forderte die britische Regierung in überraschender Deutlichkeit auf, ihre Steuerpläne zu überprüfen – insbesondere die Senkung des Spitzensteuersatzes für Grossverdiener, von 45 auf 40 Prozentpunkte. Auf öffentlichen Druck und nach Absetzbewegungen in der eigenen Fraktion, vollzog die Regierung am 3. Oktober eine Kehrtwende und beliess den Spitzensteuersatz bei 45 Prozentpunkten.
Donuts im vergünstigten Multipack; Fast-Food: Über zwei Millionen britische Kinder sind mangelhaft ernährt, schlägt eine Aktionsgruppe gegen Kinderarmut Alarm. Sie nennt sich «No Kid left behind» – kein Kind darf vernachlässigt werden – und setzt sich aus Hilfswerk-Vertreterinnen und Politiker zusammen. Die Gruppe stellt fest: «Im vergangenen Jahr hatten 2.6 Millionen Kinder keinen oder nur mangelhaften Zugang zu nahrhaften, ausgewogenen Mahlzeiten.» Und die gegenwärtig stark steigenden Lebenskosten verschärften das Problem noch zusätzlich.
Hungrige Kinder können nicht lernen.
In einem offenen Brief fordern sie die neue Premierministerin Liz Truss vor wenigen Tagen auf, allen Kindern in englischen Primarschulen ein kostenloses, warmes Mittagessen zuzugestehen, wie dies Schottland und Wales bereits täten. «Hungrige Kinder können nicht lernen. Für sie ist es schwierig, sich zu konzentrieren und ihr Potenzial zu entfalten», so die Aktionsgruppe.
Daniel Burnsides Kinder – die vierjährige Esmae und der achtjährige Coben – bekommen jeden Mittag eine warme Mahlzeit in ihrer Schule im nordenglischen Hartlepool. Gratis. Zurzeit. Ihr Vater ist froh darum. Doch er weiss, dass dies schnell ändern kann. «Sobald mein Monatsverdienst die Freigrenze für Gratismahlzeiten übersteigt, werden mir die Zulagen gekürzt – und ich muss bezahlen.»
«Bauherren wollen tiefere Preise – oder sagen ab»
Daniel Burnside steht auf der Leiter. Mit einem Farb-Roller bemalt er konzentriert das Unterdach eines Fachwerkhauses von Ende des 19. Jahrhunderts. «Es ist mein bisher grösster Auftrag», freut sich der selbständige Unternehmer. Seit sechs Wochen renoviert er die Vorder- und Rückseite des Doppelhauses; hat beschädigte Farbschichten entfernt, die Sichtbalken geschliffen und mit mehreren Schichten neu gestrichen. In zehn Tagen möchte er damit fertig sein. Wie viel er damit verdienen wird, weiss er heute noch nicht. «Ich hoffe, dass ich kein Geld drauflegen werde», sagt er ernüchtert.
Die enorme Teuerung von gegenwärtig 10 Prozent macht das Kalkulieren schwierig. «Alles wird teurer – und zwar schnell: Das Benzin, zum Beispiel, macht meine Fahrten teurer. Auch meine Farben und die übrigen Materialien sind teurer geworden. Und ich müsste meine Preise erhöhen.» Doch das gehe nicht, sagt der Maler. Im Gegenteil.
«Die Bauherren fragen nach tieferen Preisen. Gewisse Kunden können sich eine geplante Renovation wegen der Inflation nicht mehr leisten – und müssen verschieben, aufs nächste Jahr oder später.»
Burnsides Dilemma
Und die Turbulenzen am Finanzmarkt, ausgelöst durch die hastige Finanzpolitik der neuen konservativen Regierung – mit stark steigenden Hypothekarzinsen, verunsichern viele Eigenheim-Besitzer noch zusätzlich.
Das bringt Daniel Burnside in ein Dilemma: Wenn er die Preise erhöht, verliert er Kunden und verdient noch weniger. Wenn er die Preise senkt, um Aufträge zu halten, schmälert er seine Einkünfte und muss mit seiner Familie mit noch weniger Geld auskommen. Burnside sinniert: «Es ist ein ständiger Kampf. Doch ich gebe nicht auf. Ich liebe meine Arbeit. Als Maler gibt es hier in Hartlepool viel zu tun. Immerhin.»