Die Inflation treibt die Preise in Grossbritannien in die Höhe. Viele wissen nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Grossbritannien-Spezialist Gerhard Dannemann erklärt die Hintergründe.
SRF: Wie hat sich die Krise in Grossbritannien angebahnt?
Gerhard Dannemann: Grossbritannien ist schon länger in einer schwierigen sozialen Situation, etwa durch Kürzungen im Zuge der Finanzkrise 2010. Die Sozialhilfe in Grossbritannien ist ziemlich karg. Relativ viele Leute leben bereits hart am Existenzminimum.
Die englische Zentralbank prognostiziert nun eine Inflation von fast 14 Prozent im Laufe dieses Jahres und eine stagnierende Wirtschaft bis zum Ende des nächsten Jahres. Das bringt viele Leute in existenzielle Not.
Was heisst das konkret für diese Menschen?
Auch sie müssen ihre Mieten, Gas, Strom und sonstigen Rechnungen zahlen und jetzt jeden Penny zweimal umdrehen. Jeden Winter heizen manche nicht, um genügend essen zu können, oder sparen am Essen, damit sie heizen können.
Jeden Winter heizen manche nicht, um genügend essen zu können, oder sparen am Essen, damit sie heizen können.
Jüngere Beschäftigte, auch jene in einem an sich guten Beruf, sitzen auf dem Realeinkommen von vor der Finanzkrise fest, sind im Moment sogar etwas darunter. So kommen auch Leute, die sonst der Mittelschicht zugeordnet würden, in existenzielle Probleme.
Steht die soziale Krise nicht nur bevor, sondern hat sie schon angefangen?
Das kann man so sagen. Und weil sie schon angefangen hat, sind die Auswirkungen der Inflation auch dramatischer. Für viele Menschen in Grossbritannien gibt es keinen Puffer, der das auffangen könnte.
Der aktuelle Premierminister Boris Johnson ist nur noch wenige Wochen im Amt, seine Regierung nicht mehr wirklich handlungsfähig. Verstärkt dies die Krise noch?
Ja, eigentlich bräuchte man jetzt Signale, dass die britische Bevölkerung weiss, wo es jetzt lang geht, worauf man sich einstellen kann. Verzögert wird dies dadurch, dass wir erst in knapp vier Wochen wissen werden, wer die neue Premierministerin oder der neue Premierminister sein wird.
Liz Truss oder Rishi Sunak, jemand von ihnen wird auf Boris Johnson folgen. Sie touren derzeit durchs Land und werben um Unterstützung. Wie wollen die beiden die Armut bekämpfen?
Beide stehen nicht zur Wahl bei der britischen Bevölkerung an, sondern ausschliesslich bei Mitgliedern der Tories. Und die sind tendenziell eher männlich, eher weiss, im ländlichen Süden Englands daheim und gehören eher zu den besserverdienenden Bevölkerungsschichten. Bei ihnen kommen Steuererhöhungen oder Erhöhungen von Sozialleistungen nicht so gut an. Deswegen will auch keiner sagen, wie man die bald fälligen Leistungen finanzieren soll.
Rishi Sunak hält sich bedeckter und will zumindest jetzt keine Steuern senken. Liz Truss tut sich dadurch hervor, dass sie gleich mehrere Steuersenkungen in ihr Programm geschrieben hat oder bereits erhöhte Steuern oder Sozialbeiträge rückgängig machen will.
Der ökonomische Graben im Land dürfte weiter zunehmen. Was macht das mit der Gesellschaft?
Sie ist noch immer gespalten bei der Brexit-Frage, viele wünschen sich inzwischen, dass dieses Thema aufhört. Die soziale Schere geht schon eine Weile eher auseinander als zusammen, was auch die sozialen Probleme in der Gesellschaft verschärft.
Jüngere Beschäftigte sitzen auf dem Realeinkommen von vor der Finanzkrise fest.
Der neue Premierminister oder die neue Premierministerin wird sich relativ schnell überlegen müssen, wie die praktischen Probleme des Landes angegangen werden. Spätestens, wenn die Rechnungen für die Heizung im Herbst oder Winter immer höher werden, wird das sehr aktuell.
Das Gespräch führte Janis Fahrländer.