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Asylpolitik im Nachbarland So geht Österreich mit minderjährigen Asylsuchenden um

Von 4500 aufgenommenen Jugendlichen fehlt jede Spur. Die Schuld daran wird zwischen Wien und den Ländern hin- und hergeschoben.

Im letzten Jahr seien drei Viertel der minderjährigen Asylsuchenden in Österreich spurlos verschwunden oder untergetaucht – rund 4500. Was genau mit ihnen geschehen ist, ob einige gar entführt wurden, weiss man nicht. Das Problem ist nicht neu, doch die Regierung hat bisher wenig bis nichts dagegen unternommen. Das soll sich nun ändern; auch, weil immer mehr Minderjährige aus der Ukraine Österreich erreichen.

Die Jugendlichen oder gar Kinder sind teilweise unbegleitet geflohen, sind also ohne Eltern, Geschwister oder andere Verwandte unterwegs. Eigentlich müsste man sie möglichst schnell – noch am Tag ihrer Ankunft – in spezielle, auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Asylzentren bringen, um sie dort zu betreuen und sie zu schützen. Nur: An solchen Plätzen mangelt es seit Jahren. Darum landen viele in Erstaufnahmezentren.

Kaum Schutz für Minderjährige

Das ist ein Problem, sagt Birgit Schatz von der privaten Hilfsorganisation «SOS Kinderdorf» zum TV-Sender «Puls 24». «Diese Erstaufnahmezentren sind definitiv keine kinderrechtskonformen Orte. Das sind keine Orte, wo Kinder und Jugendliche eigentlich sein sollten.» Denn Erstaufnahmezentren sind vor allem für Erwachsene gedacht. Unbegleitete Jugendliche oder Kinder sind dort viel zu wenig geschützt.

Es kann passieren, dass einmal ein Auto vorfährt und ein paar Kinder mitnimmt und es keiner merkt.
Autor: Stephanie Krisper Abgeordnete, Neos

Das sagt auch Stephanie Krisper. Sie ist Parlamentarierin der Opposition, der liberalen Neos-Partei. Sie erklärt, was in solchen Erstaufnahmezentren passieren könnte: «Dass man hier kein Auge auf sie hat und es passieren kann, dass einmal ein Auto vorfährt und ein paar Kinder mitnimmt und es keiner merkt.» Mit anderen Worten: Kinder könnten entführt und Opfer von Kinderhändlern oder Zuhältern werden.

Keine Plätze – doch wer ist schuld?

Andere wiederum sagen, viele Kinder oder Jugendliche verschwinden, weil sie Verwandte oder Bekannte in anderen EU-Ländern erreichen wollen. Bloss, und das ist das Beunruhigende, man weiss es eben nicht genau. Es gibt nur Vermutungen. Österreich hat die Kontrolle über diese Jugendlichen verloren. Das Problem sind die Kapazitäten, darin sind sich alle einig. Es gibt nicht genügend Plätze für jugendliche Asylsuchende.

Die Schuld dafür schieben sich die nationale Regierung und jene in den Bundesländern gegenseitig zu. Wien sagt, die Länder würden zu wenige Plätze speziell für Kinder und Jugendliche bieten. Und die Länder sagen, sie bekämen dafür zu wenige Mittel. Und zudem stünden einer schnellen Verteilung der Kinder auf die Länder bürokratische Hürden im Weg.

Karl Nehammer mit Mikro vor Schild «100 % Karl Nehammer» an Parteitag der ÖVP
Legende: Der Bundeskanzler Karl Nehammer letzten Samstag am Parteitag der ÖVP. Keystone

In der konservativ-grünen Bundesregierung fordern nun vor allem die Grünen ein Umdenken. Pikant dabei ist: Bis im vergangenen Dezember war der jetzige Bundeskanzler Karl Nehammer Innenminister, und als solcher trug er ganz wesentlich dazu bei, dass Österreich zu wenig für Kinder und Jugendliche auf der Flucht getan hat.

Als Innenminister von Ex-Kanzler Sebastian Kurz hatte er die restriktive Asylpolitik, die dieser stets versprochen hatte, mit harter Hand umzusetzen. Nun ist Kurz weg - und Nehammer verspricht den Neuanfang. Es muss sich weisen, ob dieser Neuanfang auch für die Asylpolitik gilt.

Wie ist die Situation in der Schweiz?

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Österreich hat die Kontrolle über die minderjährigen Flüchtlinge verloren. Wie sieht es in der Schweiz aus? Das beantwortet SRF-Inlandredaktor Tobias Gasser.

SRF News: Wissen die Schweizer Behörden, wo die minderjährigen Asylsuchenden sind?
Tobias Gasser: Mehrheitlich wissen sie es. Doch es gibt nicht wenige Fälle, wo sie es nicht oder nicht mehr wissen. Gemäss einer Zusammenstellung des Staatssekretariats für Migration (SEM) sind in den letzten drei Jahren 1102 Minderjährige verschwunden. In der Behördensprache heisst es «unkontrolliert abgereist». Etwa ein Drittel davon sind sogenannte UMAs, also unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Warum verschwinden diese Kinder und Jugendlichen?
Andrea Hartmann, Sozialwissenschaftlerin an der ZHAW, untersucht das Phänomen der verschwundenen Kinder im Asylwesen. Aus ihrer Sicht liegt der Hauptgrund beim Asylentscheid. Entweder ist er bereits negativ ausgefallen oder die Jugendlichen erwarten einen negativen Entscheid. Sie sehen keine Perspektive mehr und tauchen unter. Ein anderer Grund könnte sein, dass sie zu Verwandten in die Nachbarländer weiterreisen wollen.

Welches Risiko gehen die Jugendlichen dabei ein?
Sie brauchen Geld, Nahrung, eine Unterkunft. Die Gefahr ist gross, dass sie sich in Abhängigkeiten von kriminellen Netzwerken begeben, dass sie ausgebeutet und auch missbraucht werden.

Gibt es Bestrebungen der Behörden?
Es gibt seit längerem die Bestrebung, die Situation der UMAs zu verbessern. Sie werden in den Asylzentren separat von sozialpädagogischen Fachleuten betreut. Das SEM sagt, dass unter 16-Jährige und ältere gefährdete Jugendliche begleitet werden, wenn sie in den Ausgang gehen. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher vermisst wird, wird die Polizei alarmiert. Wenn man jedoch mit Behörden, unabhängigen Fachpersonen oder auch Vertreterinnen von Flüchtlingsorganisationen spricht, kommt schnell die Forderung auf, dass mehr Ressourcen und Personal für die Betreuung von minderjährigen Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden müsste.



Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit, 18.05.2022, 18:00 Uhr

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