Die EU schlage ein neues Kapitel auf, darauf könne Europa stolz sein – historisch sei die Einigung. Solche und ähnliche Äusserungen hörte man am Mittwoch, nachdem sich die EU auf eine gemeinsame Asylreform geeinigt hatte. Diese sieht diverse Verschärfungen vor. Rechtswissenschaftler Stefan Schlegl zeigt sich skeptisch, ob die EU die Flüchtlingsproblematik mit der Reform lösen kann.
SRF News: Wo sehen Sie die Chancen im neuen Asylsystem?
Stefan Schlegl: Das Erstaunlichste ist der Solidaritätsmechanismus unter den Mitgliedsstaaten. Das historisch gewachsene Dublin-System galt stets als sehr schwer reformierbar, weil historisch unklar war, ob gewisse Länder einen sehr starken Nachteil haben durch ihre geografische Exponierung.
Wo sehen Sie Risiken der neuen Asylreform?
An den Grenzen wird es zu deutlich mehr Freiheitsentzug kommen. Dort werden spezielle Zentren eingerichtet werden, um Asylverfahren durchzuführen. Dieser vermehrte Freiheitsentzug schafft viel menschliches Leid und ein sehr grosses Risiko für Grundrechtsverletzungen. Und das dürfte eigentlich nur als Ultima Ratio eingesetzt werden.
Kann das neue Asylsystem die EU-Flüchtlingsproblematik lösen?
Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das von kräftigen strukturellen Faktoren geprägt wird: von der Klimaveränderung, von der Art, wie Kapital auf der Welt verteilt ist, von der Demografie, von Konflikten. Dass man solche Kräfte lösen kann, überschätzt massiv die Gestaltbarkeit der Politik.
Es ist eine ungeheure Kolonialherren-Arroganz, wenn man annimmt, dass andere Staaten damit einverstanden seien, als Deponie für Menschen zu dienen, die man selber als existenzgefährdend ansieht.
Sie kritisieren die Idee, dass Asylverfahren in Drittstaaten ausgelagert werden. Wo genau sehen Sie das Problem?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Asylwesen – oder Teile davon – auszulagern. Das radikalste Modell ist jenes, das das Vereinigte Königreich verfolgen möchte, wo die Aufnahme von Flüchtlingen und die Durchführung eines Asylverfahrens an einen Drittstaat ausgelagert würde. All diese Möglichkeiten sind aus rechtlichen Gründen äusserst problematisch, auch aus praktischen politischen Gründen. Man müsste einen Staat finden, der ein Rechtsstaat ist, beispielsweise auch eine funktionierende Opposition hat, aber gleichzeitig auch bereit wäre, sich quasi zu prostituieren – als eine Deponie für diejenigen, die in anderen Staaten auf keinen Fall gewollt sind.
Wie meinen Sie das mit Prostitution?
In Grossbritannien werden diese Personen, die auf kleinen Booten über den Kanal kommen, als eine existenzielle Bedrohung für die britische Gesellschaft dargestellt. Umgekehrt wird aber vermutet, dass man in Ruanda damit einverstanden sei, diese offenbar existenzielle Bedrohung gegen Geld aufzunehmen. Das ist eine ungeheure Kolonialherren-Arroganz, wenn man annimmt, dass andere Staaten damit einverstanden seien, als Deponie für Menschen zu dienen, die man selber als existenzgefährdend ansieht.
Welche Alternativen sehen Sie?
Abschreckung ist ein Mittel, wie man etwas wieder in den Griff bekommen kann. Hat aber immer den Nachteil, dass man sich frontal den elementarsten Interessen derjenigen, die in erster Linie von einer Politik betroffen sind, den Schutzsuchenden, entgegenstellen muss. Eine Lösung könnte darin liegen, die Interessen dieser Personen stärker zu berücksichtigen, ihnen eine Möglichkeit anzubieten, zu migrieren oder ihre Interessen zu verfolgen. Jede Möglichkeit, über dieses Phänomen eine bessere Kontrollmacht zurückzugewinnen, wird in der einen oder anderen Form mit legalen Migrationsmöglichkeiten verbunden sein.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.