Am Montag fällt das Urteil gegen den Attentäter von Halle, der im Oktober 2019 in der dortigen Synagoge ein Blutbad anrichten wollte, aber an der Tür scheiterte. Später erschoss er aus Frustration zwei Passanten und verletzte mehrere zum Teil schwer. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sieht einen Zusammenhang zwischen der antisemitischen Gewalttat und der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD).
SRF News: Falls der Attentäter von Halle, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, mit lebenslanger Haft und anschliessender Sicherheitsverwahrung bestraft wird: Sind Sie dann zufrieden?
Josef Schuster: Es geht nicht um die Frage nach «zufrieden». Aber ich würde dies für ein angemessenes Urteil halten.
Der Anschlag in Halle ist Teil einer langen und blutigen Kette antisemitischer Gewalttaten in Deutschland seit 1945. Was ist die Bedeutung dieses Anschlags?
Der Anschlag ist eindeutig antisemitisch. Ich sehe diesen aber eher in einer Reihe mit dem Mordanschlag auf den Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, im Juni 2019. Durch Aussagen von Politikern insbesondere der AfD wurden Äusserungen in der breiteren Bevölkerung salonfähig. Äusserungen, von denen man lange dachte, dass sie sich niemand zu sagen getraut. Aus Worten folgen Taten – das ist die Konsequenz, die wir bei diesen Anschlägen sehen.
Aus Worten folgen Taten – das ist die Konsequenz, die wir bei diesen Anschlägen sehen.
Geben Sie der AfD also klar eine Mitschuld?
Eine Mitschuld an der veränderten Einstellung eines Teils der Bevölkerung, Hemmschwellen abzubauen. Insofern gebe ich der AfD moralisch eine Mitschuld. Dass die AfD nicht direkt am Mordanschlag beteiligt ist, steht ausser Zweifel.
Ist diese sogenannt vorbildliche deutsche Vergangenheitsbewältigung ein Mythos?
Ich weiss nicht, ob man von herausragender Vergangenheitsbewältigung besonders in Deutschland sprechen kann. Ich sehe aber, dass man sich quer durch die Bevölkerung und vor allem auch bei jungen Erwachsenen und Schülern intensiv mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Das hat in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen.
Der Blick richtet sich dabei Blick vermehrt auch auf die Täter. Das hat sicher damit zu tun, dass der Fingerzeig auf den lebenden Vater oder die Grosseltern heute wohl nicht mehr gegeben ist. Was die Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur angeht, sehe ich unverändert eine positive Entwicklung.
Was Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur angeht, sehe ich unverändert eine positive Entwicklung.
Alle Experten und Opfer sagen, der Anschlag sei nur eine Frage der Zeit gewesen. Wird es weitere blutige Anschläge geben?
Das hoffe ich nicht, kann es aber nicht ausschliessen. Die hundertprozentige Sicherheit vor Anschlägen gibt es nirgends mehr auf dieser Erde. Fakt ist allerdings, dass in Halle die notwendigen polizeilichen Sicherheitsmassnahmen zum Schutz einer Synagoge an hohen jüdischen Feiertagen sträflich vernachlässigt wurden. Wenn Halle etwas Positives hat, dann dass die Sicherheitsbehörden in den Regionen mit Defiziten hellwach geworden sind.
Wenn Halle etwas Positives hat, dann dass die Sicherheitsbehörden in den Regionen mit Defiziten hellwach geworden sind.
Hat Corona den Antisemitismus verstärkt. Es gab an Kundgebungen von Demonstranten mit Judenstern und der Aufschrift «ungeimpft».
Immer wenn etwas Dramatisches geschieht, das man nicht so richtig fassen kann, werden Schuldige gesucht. Das ist jetzt nicht anders als im Mittelalter mit der Pest. Den Juden wurde damals vorgeworfen, sie hätten die Brunnen vergiftet. Auch damals brannten Synagogen. Jetzt wird erneut bei Minderheiten die Schuld gesucht. Insoweit kommen genau diese kruden Thesen auf den Tisch und fördern die antisemitische Stimmung.
Immer wenn etwas Dramatisches geschieht, das man nicht so richtig fassen kann, werden Schuldige gesucht.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.