Er schafft wieder Raum zum Träumen: «Abiy», wie Äthiopiens neuer Regierungschef genannt wird, will das Land reformieren. Der Mann hat nicht nur Visionen. In nur fünf Monaten Amtszeit wechselte er Schlüsselpositionen in der Regierung und im Militär sowie dem Sicherheitsapparat aus, die fast 30 Jahre lang für brutale Repression verantwortlich waren.
Der Neue will versöhnen. Er entschuldigte sich gar im Namen der Regierung für die Gräueltaten der Vergangenheit. Er lud Oppositionsgruppen dazu ein, am Reformprozess teilzuhaben. Und: er schloss Frieden mit dem Nachbarland Eritrea – nach fast zwei Jahrzehnten.
Eine Revolution in fünf Monaten
«Dass er sich als Premier gegen die eigene Regierung stellt, das sind so drastische Änderungen, dass sie an eine Revolution grenzen», bilanziert der Politologe Asnake Kefale, Professor an der Universität von Addis Abeba.
Mit Revolutionen hat Äthiopien Erfahrung. In den 70er-Jahren stürzte das Volk den Kaiser. Danach folgten fast zwei Jahrzehnte sozialistische Diktatur und Bürgerkrieg. 1991 übernahm die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker, kurz EPRDF, die Macht und regiert seither das Land.
Eine Kleinstadt als Keim des Wandels
Aber der Wandel kam nicht, weil an der Spitze der Regierung Köpfe ausgewechselt wurden, sondern weil die jungen Menschen in den Regionen auf die Strasse gingen, sich gegen die Jahrzehnte andauernde Herrschaft derselben Parteienkoalition wehrte und für mehr Rechte kämpfte. Immer wieder wurden die Proteste niedergeschlagen oder bereits im Keim erstickt. Ab 2015 weiteten sich die Demonstrationen landesweit aus – ausgehend vom Städtchen Ambo, drei Busstunden von Addis Abeba entfernt.
Wir haben Abiy Ahmed an die Macht gebracht.
Zu den Demonstranten gehörten auch Urgessa Damena Kumra, Shentema Kenea Gemene, Abdeta Betiri Bersisa und Wayu Beka Galera. Die Männer Mitte zwanzig sind Studenten, ein Bankangestellter, ein Handwerker. Sie sitzen in einem Restaurant in Ambo und trinken Kaffee mit Butter und Salz. «So trinken wir Oromo unseren Kaffee, erklärt der 23-jährige Shentema Kenea Gemene.
Die Oromo sind die grösste Volksgruppe Äthiopiens, sie macht rund einen Drittel der Bevölkerung aus. Die vier Männer sind noch jung, und doch sprechen sie von einem uralten Gefühl, von anderen Ethnien unterdrückt zu werden.
Und noch mehr Wert als auf ihre ethnische Herkunft legen die vier Männer auf ihr Selbstverständnis als «Qeerroos», wie die Oromo junge, unverheiratete Männer nennen. «Wir haben Abiy Ahmed an die Macht gebracht», unterstreicht der 26-jährige Urgessa Damena Kumra. Sie, die Qeerroos führten die Proteste an, die dazu führten, dass mit Abiy Ahmed zum ersten Mal ein Oromo zum Regierungschef gekürt wurde. Sie sind dementsprechend stolz darauf, dass man deshalb auch von der «Qeerroo-Revolution» spricht.
Das Misstrauen der Anhänger
Doch in den Stolz mischt sich Skepsis: Abiy müsse nun zeigen, dass er alle Äthiopier einbeziehe, politisch wie wirtschaftlich. «Bis jetzt hat er uns noch nicht ganz überzeugt. Viele unserer Freunde sitzen weiter im Gefängnis», sagt Urgessa Damena Kumra.
Er weiss, wovon er spricht. Wie viele andere Äthiopier wurde er und seine drei Kollegen in den letzten Wochen aus dem Gefängnis entlassen – als Teil der Versöhnungsstrategie des neuen Premiers.
Die Regierung hat uns als Terroristen abgestempelt.
Das Misstrauen in die Regierung ist bei den Männern nicht verflogen. «Die Regierung hat uns als Terroristen abgestempelt», erzählt Shentema Kenea Gemene. Sein Verbrechen: er hatte demonstriert. Und zusammen mit anderen Studierenden mehr politische Mitsprache verlangt, mehr Arbeitsmöglichkeiten und weniger Dominanz der Tigray.
Das reichte der Regierung, die Männer als Terroristen zu bezeichnen. Und sie ging brutal gegen sie vor. Die Polizei tötete Hunderte Demonstrierende und steckte Tausende ins Gefängnis, wo sie misshandelt wurden.
Auch Urgessa Damena Kumra. «Im Gefängnis wurde ich so sehr gefoltert, dass ich nicht mehr richtig sehe und nicht mehr richtig höre», erzählt er. Auch die anderen Männer berichten von Folterungen, von Freunden, die im Gefängnis starben. Von Kastrationen.
Zwölf Jahre hat Urgessa Damena Kumra insgesamt im Gefängnis gesessen. Er fühlt sich seines Lebens beraubt. «Der Junge, der da drüben sitzt, der war mal mein Klassenkamerad. Mittlerweile verdient er sein Geld als Lektor an der Universität. Ich habe noch nicht einmal meine Ausbildung abgeschlossen.» Er äussert im Kleinen, was seine Generation im grossen Ganzen spürt: das Gefühl, nicht teilhaben oder mitreden zu können. Nicht nur politisch, auch wirtschaftlich.
Die Revolution ist erst der Beginn
Der Vielvölkerstaat Äthiopien brennt an vielen Ecken und Enden. Die Luft, die Abiy Ahmed mit seinem weniger repressiven Gebaren ins System gelassen hat, liess alte ethnische Konflikte aufflammen.
Abiy versucht nun, die panäthiopischen Gefühle wieder zu wecken, den äthiopischen Nationalismus, nicht denjenigen der einzelnen Bevölkerungsgruppen.
Darum sei der Friedensdiskurs so wichtig, ist der Politologe Kefale überzeugt: «In den 27 Jahren EPRDF hat die Regierung auf die ethnischen Unterschiede fokussiert. Abiy versucht nun, die panäthiopischen Gefühle wieder zu wecken, den äthiopischen Nationalismus, nicht denjenigen der einzelnen Bevölkerungsgruppen.» Das sei Teil des Heilungsprozesses.
Nicht nur den Vielvölkerstaat muss der neue Premier zusammenhalten, auch die eigene Regierungskoalition. Denn nicht alle sind begeistert von den blitzartig durchgeführten Reformen. An einer Kundgebung zu Abiy Ahmeds Ehren im Juni dieses Jahres wurde ein Attentat auf ihn versucht. Wer dahinter steckt ist unklar.
Doch der Lackmustest für Abiy Ahmed werden die Wahlen in zwei Jahren sein. Er hat Demokratie versprochen. Ein Mehrparteiensystem.
Demokratie in Äthiopien? Das fordere alle Seiten, unterstreicht Kefale: Die Regierung müsse die Gesetze so gestalten, dass alle mitmachen könnten, die Zivilgesellschaft, die Medien. Die Oppositionsparteien müssten die Anliegen, welche die jungen Leute, die Qeerroos mit den Protesten ausdrückten, in eine politische Agenda umwandeln. «Wenn das nicht geschieht, werden wir bald wieder dort sein, wo wir Anfang Jahr waren. Beim autoritären Regime.»