Polnische Flüsse fliessen nach Norden, in die Ostsee, das weiss in Polen jedes Schulkind. Doch die Strwiaz, der Fluss, der unter der Brücke im Zentrum von Ustrzyki Dolne plätschert, trägt sein Wasser nach Süden, in die Ukraine.
So wie das Flusswasser hätte der Lauf der Geschichte auch die verschlafene Kleinstadt in die Ukraine schwemmen können. Vor dem Zweiten Weltkrieg war sie polnisch, dann ukrainisch. Erst nach einem Gebietstausch mit der Sowjetrepublik Ukraine gehörte sie ab 1951 wieder zu Polen.
Blutige Massaker
Ustrzyki Dolne lag im 20. Jahrhundert in einem der blutigsten Landstriche Europas. Zuerst ermordeten hier die Nazis die grosse jüdische Minderheit, dann massakrierten nationalistische ukrainische Banden zehntausende Polinnen und Polen. Und später zwangen polnischen Behörden über 150'000 Ukrainerinnen und Ukrainer aus der Region wegzuziehen.
Henryk Stadnicki kam in den 1950er Jahren hierher, um in einer Sägerei zu arbeiten. Heute ist er 86. Im schmucklosen Aufenthaltsraum des lokalen Altersheims lässt er seinen Kaffee kalt werden vor lauter Erinnerungen: Es sei damals, als er neu war, in Ustrzyki Dolne immer wieder zu Konflikten mit den wenigen verbliebenen Ukrainerinnen und Ukrainern gekommen.
Es war ein Seilziehen.
«Diese ukrainischen Nationalisten hatten immer noch den Wunsch, dieses polnische Gebiet zur Ukraine zu schlagen. Wenn sie getrunken hatten, schrien sie: ‹Das ist unser Land›. Und wir Polen hielten dagegen», sagt Stadnicki. Ein Seilziehen sei es gewesen. Heute gebe es weniger Konflikte, aber die Geschichte gebe bis heute zu reden.
Lieber als von den Konflikten erzählt der Mann mit dem akkurat gebügelten Hemd unter dem Trainingsanzug von den Momenten der Versöhnung. «An Weihnachten kamen die Ukrainer zuerst zu uns in die katholische Kirche. Und Anfang Januar feierten wir mit ihnen orthodoxe Weihnachten.»
Die Geschichte war tabu
Öffentlich ausgetragene Konflikte gab es jahrzehntelang keine. Es durfte keine geben zwischen den kommunistischen Brudervölkern in der Ukraine und Polen. Das änderte sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa.
Rechtsnationale Politikerinnen und Politiker auf beiden Seiten der Grenze versuchten, mit Vorurteilen Stimmen zu holen. Und in Przemysl, dem Zentrum dieser Region, störten Rechtsnationale 2016 sogar eine Prozession von ukrainischen Gläubigen und zerstörten Gedenktafeln.
«Die Rechtsextremen sind zwar nicht zahlreich, aber sie sind einflussreich hier, im Südosten Polens», sagt der Historiker Tomasz Pudlocki. Er ist in Przemysl aufgewachsen. Heute forscht er an der Krakauer Jagiellonen-Universität zum polnisch-ukrainischen Verhältnis. Er sagt: Die Spannungen zwischen Polen und Ukrainern gingen weit über die rechtsextremen Kreise hinaus.
«Das hat damit zu tun, dass die Gefühle, die Familiengeschichten, dass das Unrecht, das Polen und Ukrainer einander rund um den Zweiten Weltkrieg angetan hatten, im Kommunismus kein Thema sein durfte.»
Diese Jahrzehnte des Schweigens hätten auf beiden Seiten jene Ressentiments gefördert, die nach dem Ende des Kommunismus hochgekocht seien.
Man hat jahrzehntelang so getan, als gebe es in Polen keine Minderheiten mehr.
Dazu hatten viele in Südostpolen handfeste Befürchtungen. Die polnische Regierung begann nämlich in den frühen 1990er Jahren, enteigneten Besitz zurückzugeben. Ukrainerinnen und Ukrainer, die vertrieben worden waren, konnten ihre Ansprüche anmelden. Viele polnische Familien hatten Angst, ihre Häuser zu verlieren.
«Die Leute seien schockiert gewesen, dass es in Polen immer noch Ukrainer gab, nachdem jahrzehntelang so getan wurde, als gebe es keine Minderheiten mehr im Land», sagt der Historiker Tomasz Pudlocki.
Die Rückkehrerin
Durch die hohen Räume des «Dom Ukrainski» im historischen Zentrum von Przemysl weht ein ukrainisches Volkslied. In einem der Räume übt eine Gesangsgruppe. Das Eckhaus mit der prächtigen Backsteinfassade ist das wichtigste ukrainische Kulturzentrum in der Grenzregion.
Im Leitungsbüro sitzt Katarzyna Komar-Macynska. Sie fühlt sich als Ukrainerin – trotz polnischem Pass, trotz Kindheit und Jugend in Nordpolen. Erst vor ein paar Jahren ist sie nach Przemysl gezogen, auf der Suche nach einem Zuhause.
«Es war eine Rückkehr zu den Wurzeln meiner Familie», sagt die 34-Jährige. Ihre Eltern wurden als Kinder von hier vertrieben. Zwangsumgesiedelt im Rahmen der «Aktion Weichsel». Umso mehr pflegten sie am neuen Wohnort die ukrainische Identität. Mit Erfolg: Neben ihrer Arbeit hier im ukrainischen Haus schreibt Tochter Katrzyna für eine ukrainischsprachige Zeitung. Und sie betreut Flüchtlinge. Seit Kriegsbeginn ist das «Dom Ukrainski» nämlich auch eine Anlaufstelle.
Es gibt einen neuen Respekt für die Ukrainerinnen und Ukrainer.
Der Krieg habe nicht nur ihre Arbeit stark verändert, sondern auch das Image der Ukrainer in der polnischen Bevölkerung, sagt Katarzyna Komar-Macynska. «Früher sah man Ukrainerinnen und Ukrainer vor allem als Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter oder als Putzkräfte. Als Leute, die den Polen angeblich Jobs wegnahmen. Als Leute, über die man sich lustig machte. Und jetzt stellt sich heraus, dass diese Ukrainer ziemlich gut kämpfen können.»
Das habe zu einem neuen Respekt für die Ukrainerinnen und Ukrainer geführt. Das könnte, glaubt sie, nach dem Krieg die Basis für ein partnerschaftlicheres Verhältnis zwischen Polen und der Ukraine sein.
Doch bei aller Solidarität, bei aller Bewunderung für den ukrainischen Abwehrkampf, die anti-ukrainischen Ressentiments seien nicht verschwunden, sagt Komar-Macynska. «Erst gestern ist eine Kollegin auf der Strasse beschimpft worden, als sie das ‹Dom Ukrainski› verlassen hat.»
Alte Ressentiments und ein neuer Krieg nur wenige Kilometer entfernt – hat Komar-Macynska unter diesen Umständen das ersehnte Zuhause in der Heimat ihrer vertriebenen Eltern gefunden?
Die Antwort kommt zögerlich: «Ja. Nur habe ich auch grosse Angst. Ich weiss nicht, wie sicher ich hier bin, so nahe an der Grenze. Mein neu gefundenes Zuhause ist auf jeden Fall kein Bilderbuchidyll.»