Am Mittwoch sollte in Afghanistan erstmals seit der Machtübernahme der Taliban der Unterricht für Oberstufenschülerinnen wieder beginnen. Doch im letzten Moment stoppte das Bildungsministerium die Wiedereröffnung der Schulen. SRF-Südasien-Korrespondent Thomas Gutersohn beobachtet nicht den ersten solchen ad-hoc-Entscheid.
SRF News: Warum dürfen in Afghanistan die Mädchen ab der siebten Klasse nun doch nicht wie angekündigt zur Schule gehen?
Thomas Gutersohn: Die offizielle Begründung der Taliban-Regierung ist, dass es keine Schuluniformen für diese Mädchen gibt. Diese müssten erst geschaffen werden. Wobei es anscheinend Provinzen gibt, in denen die Schulen gestern geöffnet waren und in denen die Gouverneure gewillt sind, die Schulen auch weiterhin offenzuhalten. Es gibt da keine einheitliche Politik. Auch die Privatschulen sind offen für Mädchen ab der siebten Klasse. Aber die öffentlichen Schulen sind mehrheitlich zu.
Der Grund – die Kleiderordnung – klingt nach einem Vorwand.
Es ist schon sehr merkwürdig. Die Kommunikation kam im allerletzten Moment, als die Mädchen wirklich schon vor den Schultüren standen, deshalb war auch die Enttäuschung entsprechend gross. Es zeigt meiner Meinung nach, dass die Taliban nicht alle auf derselben Linie sind.
Offenbar haben die konservativeren Kreise im Moment die Oberhand.
Es gibt durchaus Kreise, die wollen, dass Mädchen in die Schule gehen, dass sich Afghanistan dem Westen etwas annähert. Deshalb auch die Ankündigung letzte Woche, dass Mädchen ab der siebten Klasse wieder in die Schule gehen dürfen. Und dann gibt es andere Kreise, die das nicht wollen. Dieses Hin-und-Her zeugt von unterschiedlichen Strömungen. Offenbar haben die konservativeren Kreise im Moment die Oberhand.
Mädchen bis zur sechsten Klasse dürfen zur Schule. Frauen gehen an die Universität. Warum wird die Oberstufe speziell behandelt?
Das hat mit einer Kopftuchdebatte zu tun, die im Moment in Afghanistan läuft. Klar ist: Mädchen bis zur sechsten Klasse müssen kein Kopftuch tragen. Frauen an der Universität natürlich schon. Die Universitäten haben vor etwa drei Wochen geöffnet, da gibt es getrennte Klassen. Aber dazwischen sind keine klaren Vorschriften vorhanden. Generell gibt es Dutzende von Interpretationen, wie genau der Hidschab getragen werden muss. Die einzige Richtlinie ist, dass er nicht dekorativ sein darf. Aber das legen die einen konservativer aus, die anderen etwas weniger.
Im Vergleich zum Taliban-Regime in den 90er Jahren versucht sich die aktuelle Regierung gemässigt zu zeigen. Dieser jüngste Entscheid scheint da nicht wirklich dazu zu passen.
Er zeugt davon, dass es tatsächlich zwei Tendenzen gibt bei den Taliban. Die Taliban sind keine homogene Gruppe. Es gibt schon länger Gerüchte, dass sich die erzkonservativen Kreise mit dem Chefunterhändler Mullah Baradar überworfen haben. Er hat 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA geführt. Heute hört man wenig von ihm. Er hat keinen wichtigen Posten in der Regierung erhalten. Und ich denke, diese unklare Kommunikation bezüglich des Schulstarts zeugt davon, dass sich diese Lager nicht gefunden haben oder vielleicht weiter auseinanderdriften.
Man weiss nie genau, woran man mit den Taliban gerade ist.
Dazu kommt, dass die Taliban noch relativ unerfahren sind. Sie wissen nicht, wie man ein Land mit 40 Millionen Einwohnern regiert. Sie haben keine klare Planung. Die Entscheidungen sind ad hoc. Und das mündet dann eben darin, dass Sachen angekündigt und wieder zurückgezogen werden und man nie genau weiss, woran man mit ihnen gerade ist.
Das Gespräch führte Lilybelle Eisele.