Die letzten Schritte, um in Sicherheit zu gelangen, führen durch den Al-Kabir-Fluss: Hunderte, vielleicht tausende Syrerinnen und Syrer überqueren derzeit täglich den Grenzfluss – und suchen Zuflucht im Norden Libanons. Eltern tragen ihre Kinder; Anwohner unterstützen die Flüchtenden, indem sie ihnen das Gepäck über den Fluss tragen.
Gewalt nicht zu Ende
Viele der Ankommenden sind traumatisiert von der Gewalt der letzten Tage. Eine Frau bricht nach der Flussüberquerung in Tränen aus: «Sie haben unsere Häuser angegriffen. Sie haben Menschen erschossen und wir mussten fliehen. Sie haben alle Männer getötet und die Geschäfte zerstört.»
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Bild 1 von 3. Hunderte, vielleicht tausende Syrerinnen und Syrer überqueren derzeit den Grenzfluss und suchen Zuflucht im Libanon. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 3. Viele der Flüchtlinge sind sichtlich gezeichnet vom Erlebten. «Sie haben Menschen erschossen», sagt diese Frau. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 3. «Unser einziges Verbrechen ist, dass wir Alawiten sind», sagt diese Frau. Bildquelle: SRF.
Auch wenn Syriens Übergangspräsident Ahmed Al-Sharaa vergangenen Montag die militärischen Operationen und die Gewalt in dem vorwiegend von der alawitischen Minderheit bewohnten Küstenstreifen für beendet erklärt hat, erzählen viele, die uns hier begegnen, dass die Gewalt andauere.
Widersprüchliche Angaben
Eskaliert ist die Situation Ende letzter Woche im syrischen Küstenstreifen – laut Berichten nach einem Angriff von Assad-Loyalisten auf Sicherheitskräfte der neuen Regierung. Beobachtungsstellen sprechen mittlerweile von hunderten oder gar über tausend Todesopfern, darunter auch viele Zivilisten. Videos zeigen schlimmste Gewalt, die Rede ist von Massakern.
Viele der Opfer sollen Alawiten sein. Angehörige jener Religionsgruppe, der auch der gestürzte Machthaber Assad angehört. Alawiten haben teilweise vom Assad-System profitiert, hatten wichtige Posten inne – aber längst nicht alle. Die Bevölkerungsgruppe steht derzeit trotzdem unter Generalverdacht im neuen Syrien. Eine Frau, die eben den Grenzfluss überquert hat, sagt: «Unser einziges Verbrechen ist, dass wir Alawiten sind. Sie sagen, wir seien Regime-Anhänger. Das stimmt nicht. Wie sollen wir je wieder mit ihnen zusammenleben?»
Die Täter seien Teil des neuen Sicherheitsapparats in Damaskus, berichten viele der Flüchtenden. Doch die Organisation «Syrisches Netzwerk für Menschenrechte» macht für einen Teil der Morde auch Assad-Anhänger verantwortlich. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Das syrische Küstengebiet ist für Medienschaffende derzeit abgesperrt.
Versteckt in den Bergen
Auch Ali, den wir in einem Haus nahe der Grenze treffen, ist mit seiner Familie in den Libanon geflüchtet. Sein Zuhause sei abgebrannt, erzählt er. Für ihn ist die Gewalt eine Kollektiv-Bestrafung der Alawiten, obwohl längst nicht alle von ihnen Assad-Unterstützer gewesen seien: «Als Assad gestürzt wurde, haben auch wir gefeiert», sagt er.
Ali und seine Familie sind vorerst in Sicherheit. Freunde von ihnen verstecken sich aber immer noch in den syrischen Bergen. Wir erreichen sie per Video-Anruf. Aus Angst vor Repressionen wollen sie ihr Gesicht nicht zeigen. Ali erklärt: «Sie können nicht in ihr Zuhause zurück. Sie haben Angst, getötet zu werden.»
Syriens Übergangspräsident Al-Sharaa hat sich von der Gewalt distanziert und eine Untersuchung angeordnet – durch eine Kommission, bestehend aus syrischen Richtern. Viele der Menschen, die in den Libanon geflüchtet sind, trauen dieser aber nicht und wollen deshalb vorerst nicht nach Syrien zurückkehren.