Bessere Zeiten könnte sich die Opposition in Grossbritannien nicht wünschen. Premierminister Boris Johnson steckt eine Niederlage nach der anderen ein. Zuerst im Parlament und gestern nun auch noch vor dem höchsten Gericht, das die Zwangspause des Parlaments aufgehoben hat. Die Labour-Partei nutzte die Gunst der Stunde und schaltete am Jahrestreffen im Seebad Brighton sofort auf Wahlkampf-Modus.
Doch bei aller Freude über das Urteil des Supreme Court – die Harmonie täusche und die Stimmung sei miserabel, sagt Steve Bray, seit über 30 Jahren Mitglied von Labour. Der überzeugte «Remainer» stammt aus dem Süden von Wales, wo die Menschen mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben.
Der Brexit habe mehr oder weniger das ganze Land gespalten, Nachbarn, Freunde und Parteien, auch die Labour Party, so Bray. Es sei so viel zerstört, am meisten wohl aber das Vertrauen: «Viele benachteiligte Dörfer und Städte haben für den Brexit gestimmt und den Versprechungen geglaubt. Alle diese Menschen sind betrogen worden.»
Labour-Chef will nicht Farbe bekennen
Die Mehrheit der Parteimitglieder sieht das ähnlich wie Bray und möchte in der EU bleiben. Labour-Chef Jeremy Corbyn dagegen, der Boris Johnson beerben möchte, will ein zweites Referendum über einen EU-Austritt. Seine persönliche Meinung behält der Leader allerdings für sich.
Stattdessen eiere der Labour-Chef weiter herum, obwohl 80 Prozent der Mitglieder der Labour Party in der EU bleiben wollten, kritisiert Bray: «Corbyn sitzt sei drei Jahren auf dem Zaun und hält sich bedeckt. Das ist vielleicht hilfreich für seine Karriere, aber hier geht es um die Zukunft des Landes.»
Brexiteers bei Labour in der Defensive
Die Gräben in der Partei sind mittlerweile so tief, dass sich Brexit-Befürworter öffentlich eher bedeckt halten. Das Treffen mit Paul Embery findet deshalb in einem kleinen Hotel ausserhalb des Konferenzzentrums statt.
Der Feuerwehrmann und Gewerkschafter ist seit 25 Jahren bei der Partei. Er hat wie 17 Millionen andere Briten für den Brexit gestimmt und kann deshalb nicht verstehen, warum sich Corbyn nicht klar und deutlich für einen EU-Austritt ausspricht.
«Wenn eine Regierung eine Abstimmung ausruft und eine wichtige Entscheidung in die Hände der Bürger legt und diese einen Entscheid treffen, muss dieser auch umgesetzt werden», macht Embery geltend. Selbst wenn der Entscheid überrasche und der politischen Elite nicht gefalle. Ansonsten hätte nie ein Referendum durchgeführt werden dürfen: «Viele Menschen in diesem Land sind deshalb frustriert.»
Corbyns wahltaktische Überlegungen sind so klar wie durchsichtig: Der Labour-Chef will auf keiner Seite verlieren. Bekennt er sich zu einem EU-Austritt, werden viele Labour-Wählerinnen und -wähler zu den Liberaldemokraten abwandern.
Spricht er sich für den Verbleib in der EU aus, wird er viele Menschen in ländlichen Regionen enttäuschen, wie Embery warnt: «Es wird den Graben zwischen der Parteileitung und der Basis in ländlichen Regionen noch mehr vergrössern.» Wenn Corbyn weiter herumlaviere, werde Labour massiv Stimmen an die Brexit-Partei verlieren.
In Grossbritannien stehen Neuwahlen vor der Tür. In der wichtigsten Frage, welche das Land seit drei Jahren umtreibt, offiziell keine Meinung zu haben, kann sich die Königin erlauben, aber nicht eine politische Partei.