«Ich kriege Emails mit Bildern von geköpften Personen», erklärt Lisa Cameron, Abgeordnete der schottischen Nationalpartei. Sie erhält regelmässig Morddrohungen: «Das passiert nicht alle sechs Monate, sondern jede zweite Woche. Leute schreiben mir, dass sie kommen, um mir und meiner Familie etwas anzutun. Ich habe Angst um meine Kinder.»
Drohungen gegen Abgeordnete sind in Grossbritannien so zahlreich wie nie zuvor, sagt Polizeipräsidentin Cressida Dick. Die rapportierten Fälle hätten sich im Jahr 2018 verdoppelt, von 151 auf 342.
Kommandant Adrian Usher, der für die Polizei in Westminster Palace verantwortlich ist, sieht einen Zusammenhang mit einer aufgeheizten politischen Debatte seit Mitte 2018.
Johnson lehnt Mitschuld ab
Die BBC hat alle 650 Abgeordnete angeschrieben und befragt, 172 haben geantwortet. 80 Prozent von ihnen erklärten, sie oder ihre Mitarbeiter hätten Beschimpfungen oder Drohungen erhalten.
In Emails oder auf Social Media müssen sie Sätze lesen wie: «Ich werde deine Frau und deine Töchter vergewaltigen», «du gehörst rausgestellt und erschossen», «ich werde deine Tür einschlagen und dir krass wehtun».
Dass aus Drohungen Taten folgen können, hat Grossbritannien bereits schmerzlich erlebt. Brexit-Gegnerin Jo Cox ist 2016 kurz vor dem Brexit-Referendum erschossen worden. Der Täter hatte kurz vor der Schüssen gerufen: «Britain first!»
An diesen schrecklichen Vorfall erinnerte die Labour-Abgeordnete Paula Sherriff den Premierminister Boris Johnson am Mittwochabend während der emotionalen Debatte. Sie mahnte ihn, seine Sprache zu überdenken: «Viele hier werden fast täglich beschimpft. Und wir alle wissen, was unserer verstorbenen Kollegin widerfahren ist. Überdenken Sie Ihre Sprache, denn diejenigen, die mich bedrohen, zitieren Ihre Worte.» Boris Johnson entgegnete ihr: «Ich habe noch nie einen solchen Schwachsinn gehört.»
Erwartet werden ausgewählte Worte
Die Diskussion im Unterhaus war zuvor auf beiden Seiten äusserst gehässig geführt worden. Doch dass Boris Johnson mit keinem Wort auf die Ängste der Abgeordneten eingegangen war, nahmen ihm auch viele in der eigenen Partei übel.
In einem Interview tags darauf reagierte Johnson. Er entschuldigte sich nicht für seine Wortwahl, verurteilte aber jegliche Beschimpfungen oder Drohungen gegen Parlamentarier.
Die Debatte war schon unter Theresa May sehr emotional geführt worden. Dennoch erwarten viele Briten von einer Premierministerin oder einem Premierminister gewählte Rhetorik – auch in harten Auseinandersetzungen.
Ein Funken Hoffnung
Viele sehen in Johnsons teilweise bewusst provokativer Wortwahl politisches Kalkül im Hinblick auf kommende Neuwahlen. Ob dies aufgeht, ist allerdings fraglich. Der ehemalige Herausgeber der Sun, David Yelland, erklärte am Fernsehen: «Der Premierminister ist mehr Boulevard als der Boulevard selber», doch damit erreiche er nicht all seine Leser. Längst nicht alle Wähler der traditionsreichen konservativen Partei schätzen diesen Stil.
Unterdessen fragen sich viele Parlamentarier, wo diese Debattenkultur enden wird. Der Tweet von Nick Boles gibt in der gefährlich aufgeheizten Stimmung etwas Hoffnung: «Ich will nicht einer sein, der den Fehler immer nur beim anderen sieht. Ich war selber auch brutal mit meinen Argumenten gegen die Regierung. Ich will mich verbessern. Leidenschaftlich argumentieren, ohne den anderen zu attackieren.»