Mit über 35'000 Toten durch Covid-19 steht Grossbritannien europaweit einsam an der Spitze. Erstmals seit Ausbruch der Krise überwiegt laut einer Umfrage die Unzufriedenheit mit der Regierung. Das Krisenmanagement von Boris Johnson werde zunehmend hinterfragt, sagt Grossbritannien-Korrespondent Patrik Wülser.
SRF News: Muss sich Premier Johnson angesichts der Umfragewerte schon Sorgen machen?
Patrik Wülser: Langfristig vielleicht, aber mittelfristig nicht. Umfragen sind mit Vorsicht zu geniessen. Das Land steckt mitten in der Krise. Die Menschen sind aus vielen Gründen unzufrieden. Da ist die Regierung automatisch unter Beschuss.
Das staatliche Gesundheitssystem war schon vor der Pandemie am Limit, weil man 20 Jahre gespart hat.
Die Kritik am verspäteten Vorgehen in der Pandemie kommt auch vom ehemaligen Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Was heisst das für den Premier?
Im Unterschied zur Umfrage muss er diese Kritik ernst nehmen, denn sie ist richtig und berechtigt. Dass Grossbritannien heute die meisten Todesopfer hat, ist hausgemacht. So wurde noch Fussball gespielt, als im Rest von Europa die Läden bereits geschlossen waren. Der Premier schüttelte weiter Hände und war stolz darauf. Das staatliche Gesundheitssystem war schon vor der Pandemie am Limit, weil man 20 Jahre gespart hat. Es gibt bis heute kein Schutzmaterial und zu wenig Tests.
Ganz so plakativ würde ich das nicht ausdrücken. Johnson ist ein Populist und liebt die Rolle des tollpatschigen und schlagfertigen Unterhalters. Aber er hat durchaus Führungsqualitäten. Dass er Charisma hat, sah man während seines Spitalaufenthalts, als er vom hölzernen Dominic Raab vertreten werden musste.
Nur gerät Johnson von der neu aufgestellten Labour-Partei unter Keir Starmer unter Druck. Kann Starmer punkten?
Extrem. Innert eines Monats befragte Starmer den Premier bereits zwei Mal. Starmer hat einen ganz anderen Stil als Jeremy Corbyn. Er nennt es «konstruktive Politik», und sein Auftritt ist so ruhig wie höflich. Der ehemalige Staatsanwalt ist so präzis und scharfsinnig wie ein Forensiker. Hier kommt Johnson ins Rudern. So blass und verlegen habe ich ihn noch nie gesehen.
Beim präzisen Starmer kommt der Premier ins Rudern. So blass und verlegen habe ich Johnson noch nie gesehen.
Für Starmer ist es zurzeit ein Balanceakt, denn in einer Krise kritisiert man die Regierung nicht so hart. Aber mit jeder Stunde und jedem Tag wird die Abrechnung härter. Starmers Stunde wird kommen, und viele bei Labour hoffen, dass er das Format zum Premier hat.
Grossbritanniens Wirtschaft liegt brach. Wie geht es hier weiter?
Das wird das Problem der Zukunft sein. Es sind nun zwei Millionen Arbeitslose, davon eine während der Pandemie. Dazu kommen riesige Staatsschulden. Die künftige Risikogruppe wird die Jugend sein. Viele werden einen schlechten Start ins Leben haben. Johnson gewann die Wahl im Dezember mit dem Versprechen, die vernachlässigten Regionen im Norden Englands zu fördern. Schon damals fragte man sich, woher das Geld kommen soll. Jetzt erst recht. Die Staatskasse wird leer sein.
Die künftige Risikogruppe wird die Jugend sein. Viele werden einen schlechten Start ins Leben haben.
Johnson geht beim Brexit weiterhin aufs Ganze. Wie ist diese Taktik zu erklären?
Der Brexit ist zwar nicht mehr in den Schlagzeilen, aber die Hardliner in Johnsons Partei machen Druck für die Umsetzung. Dass die Regierung das tun will, zeigt das kürzlich vorgestellte Einwanderungskonzept mit einem Punktesystem. Gestern kam die geplante Zollbefreiung von 60 Prozent der Importe. Gewisse Kommentatoren sagen, die Regierung rechne damit, dass die wirtschaftlichen Brexit-Folgen gemessen am Corona-Schuldenberg nur ein Kollateralschaden seien.
Das Gespräch führte Roger Aebli.