Das surrende Geräusch, das bei vielen Leuten Angstschweiss auslöst, wäre für viele Britinnen und Briten Musik in den Ohren. Besonders für jene, die seit Monaten mit Zahnschmerzen auf einen Termin beim staatlichen Gesundheitsdienst NHS warten.
Für Linda wurde das Warten in der Telefonschlaufe nach sechs Monaten so schmerzhaft, dass sie zur Selbsthilfe schritt. Drei ihrer Zähne seien eitrig und faulig geworden. «Die Schmerzen waren unerträglich, und der Kiefer entzündete sich immer mehr.» Weil sie weit und breit keinen Zahnarzt fand, machte sie Ernst – und zog daran, bis die Zähne rauskamen.
Zahnmedizinische Wüste
Linda ist kein Einzelfall. Jedes Jahr warten rund fünf Millionen Leute vergeblich auf einen Zahnbehandlungstermin im staatlichen Gesundheitsdienst, der zur Grundversorgung gehört und praktisch gratis ist. Dies zeigte unlängst eine Untersuchung im Auftrag der Regierung.
Das sind elende Zustände, wie wir sie aus Romanen von Charles Dickens kennen.
Nach 14 Jahren Macht hätten die Konservativen eine zahnmedizinische Wüste hinterlassen, diagnostizierte Labour-Gesundheitsminister Wes Streeting im Parlament. «Wir sind mit der erschütternden Tatsache konfrontiert, dass eine von zehn Personen in diesem Land gezwungen ist, ihre Zähne selber zu flicken, zu füllen oder gar zu ziehen.»
Und weiter: «Das sind elende Zustände, wie wir sie aus Romanen von Charles Dickens kennen. Aber im Vereinigten Königreich des 21. Jahrhunderts sind sie noch Realität.»
«Golden hello» mit schwacher Bilanz
Gegen die Unterversorgung lancierte die konservative Regierung vor zwei Jahren ein Programm mit dem Titel «Golden hello». Zahnärztinnen und Zahnärzte, die in entlegenen Gegenden eine Praxis eröffneten, erhielten eine Prämie.
Gebracht habe das Bonus-Programm wenig bis nichts, bilanzierte der Präsident der Zahnärzte-Gesellschaft Edi Crouch kürzlich gegenüber der BBC. Es sei schlicht zu wenig ambitiös gewesen, und Millionen von Menschen warteten immer noch auf einen Zahnarzttermin.
Es braucht keine Umzugsprämien, sondern eine anständige Bezahlung.
Laut Crouch dienten die Prämien allenfalls dazu, einige Zahnärzte und -ärztinnen von einem Ort an einen anderen umzusiedeln. Die Zahl jener, die bereit seien, für den NHS zu arbeiten, sei damit nicht gestiegen. «Dazu braucht es nicht Umzugsprämien, sondern eine anständige Bezahlung», betont er.
Knackpunkt: Pauschalhonorar
In Grossbritannien gibt es offiziell rund 45'000 Zahnärztinnen und Zahnärzte. Doch nur gerade die Hälfte von ihnen ist gemäss Statistik beim staatlichen Gesundheitsdienst angestellt. Die anderen betreiben private Praxen. Deren Dienstleistungen sind für viele Britinnen und Briten jedoch unerschwinglich.
Der Grund für dieses Zweiklassen-System liege am Tarif-System, erklärte eine Zahnärztin unlängst dem Schweizer Radio: «Beim NHS erhält der Zahnarzt eine pauschale Entschädigung. Egal, ob er einen Zahn flickt oder zehn – das Honorar ist immer dasselbe.»
Weitere Abgänge aus NHS befürchtet
Die britische Zahnärzte-Gesellschaft rechnet damit, dass in den nächsten Jahren noch einmal gut die Hälfte der Zahnärztinnen und Zahnärzte, die heute für den NHS arbeiten, in lukrativere, private Praxen abwandern könnten.
Darunter leiden Leute wie Linda, die sich kürzlich drei Zähne gezogen hat. Der Vorgang sei übrigens weniger dramatisch, als sie gedacht habe: «Wenn die Zähne einmal faul sind und man genug lange daran wackelt, ist die Entfernung gar nicht so schmerzhaft.»