Es tut weh. Zwölf Frauen und Männer sitzen bereits seit 7 Uhr morgens auf den farbigen Plastikstühlen der Heilsarmee in Eastbourne.
Neben Zahnschmerzen verbindet diese Menschen, dass sie keinen Termin beim staatlichen Gesundheitsdienst (NHS) bekommen und kein Geld haben, um einen Privatzahnarzt aufzusuchen. Die Schmerzen seien seit Wochen unerträglich, klagt ein junger Mann.
Auch Lilly tut es weh, sie benötigt dringend Zahnfüllungen. Leicht ramponiert blickt ebenso Mathew in die Welt.
Während einer Auseinandersetzung in einem Pub hat er einen Fausthieb ins Gesicht bekommen. Seither leidet er unter Kieferschmerzen, doch beim NHS habe er keinen Termin bekommen, meint der 35-jährige Armeeveteran resigniert.
«Die Regierung in diesem Land sorgt sich nur um reiche Leute und deren Privilegien. Arme Menschen interessieren die Regierung nicht. Obdachlose, Arbeitslose, Kranke oder Behinderte fristen ein karges Dasein», so Mathew.
Dabei müsse die Regierung endlich dafür sorgen, dass die britische Gesundheitsversorgung wieder das Niveau anderer Länder erreiche. «Ich war in Deutschland als Soldat stationiert. Die medizinische Versorgung war hervorragend. Hier geht es dagegen nur noch abwärts.»
Die Regierung in diesem Land sorgt sich nur um reiche Leute und deren Privilegien.
Vor dem Heilsarmee-Zentrum steht ein hellblauer Lastwagen. Im Frachtraum ein Zahnarztstuhl inklusive Bohrer, Röntgenapparat und dem charakteristischen Geruch nach Nelkenöl und Desinfektionsmittel. Eine voll ausgerüstete Zahnarztpraxis auf Rädern, erklärt Jill Harding von DentAid.
«Wir röntgen, wir reparieren Löcher, ziehen Zähne, behandeln entzündetes Zahnfleisch und machen Krebsprophylaxe-Untersuchungen im Mundbereich. Niederschwellig, ohne Anmeldung.» Jeden Tag sei DentAid an einem anderen Ort. «Wir fahren mit unseren Lastwagen quer durchs Land. Heute hier in Eastbourne, Brighton Richtung Süden bis nach Yorkshire.»
Ursprünglich in Afrika tätig
Das zahnmedizinische Hilfswerk, das ursprünglich vor allem in Afrika tätig war, wird immer häufiger von britischen Kommunen angefordert. DentAid behandelt dabei längst nicht nur Obdachlose. Sondern ebenso Familien, die an der Armutsgrenze leben, Flüchtlinge oder Armeeveteranen wie Mathew.
Dieser hat mittlerweile auf der Liege Platz genommen und schildert der Zahnärztin sein Problem. Der surrende Stromgenerator hält den Behandlungscontainer warm und ermöglicht die Aufnahme von Röntgenbildern. Diese sehen im Fall von Mathew nicht gut aus.
Zwei Zähne sind im Wurzelbereich gebrochen. Man müsse sie ziehen, diagnostiziert Aline Swanson. Während sie eine Spritze aufzieht, lobt Heilsarmee-Chef Andrew Gardener die Arbeit der «fliegenden Zahnärzte»: Diese würden nicht nur kaputte Zähne flicken, sondern den Menschen ebenso ein Stück Würde zurückgeben.
«Die Zahnärztin sorgt dafür, dass die Leute wieder lachen können. Wer ungeniert lächeln kann, hat mehr Selbstbewusstsein und traut sich zum Beispiel wieder, sich auf eine Arbeitsstelle zu bewerben. Ein Besuch bei den fliegenden Zahnärzten kann das Leben verändern.»
Bis Mathew wieder lachen kann, wird es noch eine Weile dauern. Nachdem die beiden gebrochenen Zähne gezogen sind, werden in seinem Unterkiefer noch zwei Löcher repariert.
Unentgeltliche Einsätze
Solche Monsterbehandlungen seien eher selten, erklärt Zahnärztin Swansen nach getaner Arbeit. Normalerweise arbeitet sie in einer privaten Praxis und leistet daneben regelmässig unentgeltliche Einsätze bei Dentaid. Der staatliche Gesundheitsdienst sei eine wunderbare Erfindung, aber sie habe längst aufgehört, für den NHS zu arbeiten.
«Der staatliche Gesundheitsdienst ist so schlecht finanziert, dass man als Zahnärztin wirklich miserabel verdient. Dabei schuftet man täglich, wie in einem Hamsterrad, und ist mit einer Unmenge Bürokratie konfrontiert. Als ich für den NHS arbeitete, kam ich jeden Abend völlig erschöpft nach Hause.» Viele Kolleginnen würden deshalb lieber in privaten Praxen arbeiten, spezialisierten sich auf Implantate oder würden sich frühpensionieren lassen. «Auf der Strecke bleibt dabei in diesem Land die zahnmedizinische Grundversorgung.»
Tausende verlassen Beruf
Aline Swansen ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Rund 3000 Zahnärztinnen und Zahnärzte haben in den vergangenen drei Jahren ihren Beruf an den Nagel gehängt. Eine solche Krise habe er in seiner fast 40-jährigen Berufskarriere noch nie gesehen. Das erklärte kürzlich der Präsident der britischen Zahnärztinnen- und -ärztegesellschaft in einem Hearing der parlamentarischen Gesundheitskommissionen.
Ein Problem sei, dass eine Zahnärztin beim Gesundheitsdienst für jeden Patienten eine pauschale Entschädigung erhalte. Egal, ob er einen Zahn flicke oder zehn. Egal, ob er eine kleine Füllung mache oder eine ganze Wurzelbehandlung. Drei Extraktionen oder eine – das Honorar sei immer dasselbe.
Die Zahnärztegesellschaft rechnet damit, dass in den nächsten Jahren drei von vier britische Zahnärztinnen und Zahnärzte in private Praxen abwandern werden. Die Tätigkeit dort ist schlicht lukrativer.
Darunter leiden Leute wie Mathew. Dieser sitzt kurz vor Mittag am Strassenrand. In der Hand eine kleine Plastiktüte mit zwei blutigen Zähnen. Aline Swanson winkt ihm zum Abschied aufmunternd zu. Die Praxis rollt weiter, an den nächsten Ort, wo es Menschen weh tut.