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Glosse «Dunkelflaute» im Vereinigten Königreich

Wenn fast nichts mehr geht: Ein deutscher Fachbegriff aus der Energiebranche beschreibt das britische Krisenjahr 2022.

«Take back control» lautete der Slogan des Brexits. Trotzdem schaffte es die «Dunkelflaute» aus dem EU-Binnenmarkt in den englischen Sprachraum. Die leicht kryptische Lautung verbindet man zwar eher mit einer depressiven Verstimmung. Doch in diesem Sinn passt sie recht gut zur aktuellen Grosswetterlage im Königreich.

Denn zu behaupten, das vergangene Jahr sei unter einem guten Stern gestanden, strapaziert selbst britisches Understatement. In Downing Street herrschte ein Kommen und Gehen, dass man den roten Teppich am besten gar nicht mehr eingerollt hätte.

Drei Premiers in drei Monaten

In gerade mal 45 Tagen schaffte es Liz Truss, die britische Wirtschaft an die Wand zu fahren, bevor sie still den Hut nehmen musste. Spektakulärer war dagegen der Abgang von Boris Johnson. Während einiger Stunden musste man fast fürchten, er verschanze sich wie einst der frühere afrikanische Machthaber Laurent Gbagbo in der Elfenbeinküste im Regierungsgebäude.

Am Ende ging es ohne den Einsatz von UNO-Blauhelmen. Johnson verliess die politische Bühne zwar leicht ramponiert, im Unterschied zu vielen seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ist er aber nicht unmittelbar von Armut betroffen. Allein in den vergangenen drei Monaten soll er mit lustigen Reden weit über eine Million Franken verdient haben.

Die «Dunkelflaute»

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Die britische «Financial Times» warnte vor ein paar Tagen mit Blick auf die Energiekrise vor der gefürchteten «Dunkelflaute». Der Begriff aus der Energiewirtschaft umschreibt das Phänomen, wenn es an dunklen Wintertagen zu wenig Sonne gibt, um Sonnenstrom zu produzieren und es zugleich windstill ist, sodass auch die Windkraft ausbleibt.

Weniger lustig ist im Moment gerade der britische Alltag: Bleiben Sie zu Hause, verzichten Sie auf Sport und Spaziergänge. So warnten die Gesundheitsbehörden vor wenigen Tagen. Dies, nachdem neben den Pflegefachleuten und Grenzbeamten auch noch die Ambulanz-Fahrerinnen ihre Arbeit niedergelegt haben.

Doch selbst zu Hause will nicht so recht Stimmung aufkommen. Wer seine Weihnachtspakete nicht bereits im Sommer bestellt hatte, hat keine Geschenke unter dem Tannenbaum vorgefunden, denn auch die Postangestellten streikten im Dezember.

Die fehlende Queen

Selbst auf die tröstenden Worte der Königin mussten die Britinnen und Briten in diesem Annus horribilis erstmals verzichten. Die «Bessere Zeiten werden kommen»-Reden der Queen gehörten während Jahrzehnten zum britischen Weihnachtsritual wie Truthahn und Gingerbread.

Und der Sohn hatte bis heute nicht wirklich Zeit gefunden, das Vakuum zu füllen, das seine Mutter hinterlassen hat. Wenn sich der frisch gebackene König nicht gerade über einen Füllfederhalter ärgert, muss er seine zerrüttete Familie zusammenhalten.

Die wahren Opfer der «Dunkelflaute»

Der Vorwurf aus Kalifornien, Sohn und Schwiegertochter seien den Raubtieren zum Frass vorgeworfen worden, würde in vielen Ländern die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde auf den Plan rufen. In Grossbritannien hält sich das Mitleid der Öffentlichkeit mit Harry und Meghan nach dem Erscheinen ihrer gleichnamigen Netflix-Doku dagegen in Grenzen.

Besonders von jenen, die buchstäblich in «Dunkelflaute» leben. Jene Britinnen und Briten, die sich in diesen Tagen zwischen Heizen und Essen entscheiden müssen und für ihre Leidensgeschichte nicht 100 Millionen Franken kassieren.

Patrik Wülser

Grossbritannien-Korrespondent

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Patrik Wülser arbeitet seit Ende 2019 in London als Grossbritannien-Korrespondent für SRF. Wülser war von 2011 bis 2017 Afrika-Korrespondent und lebte mit seiner Familie in Nairobi. Danach war er Leiter der Auslandsredaktion von Radio SRF in Bern.

Echo der Zeit, 27.12.2022, 18:00 Uhr

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