Die vielen Regierungen Tunesiens: Tunesiens Präsident Kais Saied hat in der Nacht auf letzten Freitag seinen Premier Kamel Al-Madouri entlassen und durch die Ministerin für Wohnungsbau und Ausrüstung, Sarah Al-Zafrani Al-Zanzari, ersetzt. Eine Begründung dafür lieferte er nicht. Er hat damit in weniger als zwei Jahren zum dritten Mal die Regierungsleitung neu besetzt und jetzt die Dienstälteste im Kabinett an die Spitze gestellt. Seit dem Arabischen Frühling von 2010 gab es damit in Tunesien zehn verschiedene Regierungen. Das sei wohl mit ein Grund, dass die Demokratiereform nicht vorankomme, schätzt der Journalist Mirco Keilberth in Tunis.
Soziale Spannungen wegen Migration: Hauptthema im Land ist laut Keilberth zurzeit die Migration. Die Spannungen zwischen Zehntausenden von Migranten und der Bevölkerung an den Küstenorten stiegen. Am Tag der Nationalen Einheit habe es Forderungen gegeben, alle Migranten zu deportieren. Auch von der Sterilisation von Migrantinnen sei gar die Rede gewesen. Kaum ein Boot lege noch von Tunesien nach Lampedusa ab, umschreibt Keilberth die Folgen des Drucks der EU auf den Präsidenten. Nun habe Saied anscheinend mit dem Premier den Sündenbock gefunden, ohne sich klar zu äussern.
Der Beamtenapparat: Der seit Oktober 2019 amtierende Präsident Saied setze die «Tradition» mit vielen personellen Wechseln an der Spitze offensichtlich fort, stellt Keilberth weiter fest. Im Misstrauen gegen die Bürokratie und gegen die lokalen Entscheidungsträger wurden bereits diverse Gouverneure entlassen. Solche Entscheidungen treffe Saied meist allein, wenn er Verschwörungen gegen seine Demokratiereform vermute. Trotzdem habe er die Hoffnung, mit immer neuen Funktionären den Reformprozess vorantreiben zu können, stellt Keilberth fest. Dieser sei nicht zuletzt eine Voraussetzung für finanzielle Mittel aus Europa und vom Weltwährungsfonds.
Die Reaktionen der Strasse: Die jüngste Entlassung habe bei vielen Tunesierinnen und Tunesiern die Zweifel verstärkt, ob der Präsident in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten überhaupt eine richtige Strategie habe oder ob er sich vor allem von Animositäten leiten lasse, so Keilberth. Mit der neuen Regierungschefin werde sich kaum etwas ändern, denn sie sei von Saieds Gnaden. Das Land bräuchte Fremdwährungen, leidet aber unter einer überbordenden Bürokratie und Korruption. «Ohne die Lösung dieser Probleme wird es spätestens nach der Tourismussaison im Herbst eine grössere Wirtschaftskrise geben», schätzt der Nordafrika-Experte.
Das Problem mit der Basisdemokratie: Tunesien leidet unter einem alten, noch aus Kolonialzeiten stammenden System an mangelnder Autorität in den Gemeinden. Dort sei man auf jeden Fall reformwilliger, und es sei auch Kaieds basisdemokratische Idee gewesen, die dortige Autorität zu stärken, sagt Keilbert. Doch diese habe der Präsident mit seinem autokratischen Stil bisher immer selbst unterwandert.