Darum geht es: Im einstigen Vorzeigeland des Arabischen Frühlings brodelt es derzeit gewaltig. Im Juli 2021 hatte Präsident Kais Saied das Parlament in Tunesien entmachtet, die Regierung entlassen und die Verfassung geändert. Seither weigert sich Saied, das Parlament wieder einzusetzen, sein Regierungsstil nimmt zunehmend autoritäre Züge an. In den vergangenen Tagen wurden mehrere prominente Personen aus Politik, Wirtschaft und der Presse verhaftet.
Wer sind die Festgenommenen? Die Liste der Verhafteten reicht von einem bekannten Geschäftsmann hin zu Mitgliedern der Opposition, wie zum Beispiel Nourredine Bhiri, einem hochrangigen Politiker der Oppositionspartei Ennahda. Gemäss der freien Journalistin Sarah Mersch, die in der tunesischen Hauptstadt Tunis lebt, stammen die Verhafteten aus dem ganzen politischen Spektrum – also sowohl aus der Linken als auch aus muslimisch-konservativen Kreisen. Ebenfalls verhaftet wurde der Besitzer des grössten tunesischen Privatradios.
Welche Rolle spielt Staatspräsident Saied? In den letzten anderthalb Jahren hat der 64-Jährige nach und nach Kontrollorganisationen ausgeschaltet. Die freie Journalistin Mersch erklärt gegenüber SRF: «Die Justiz wird immer stärker von Saied beeinflusst. Zwar gibt es Proteste vonseiten der politischen Opposition oder aus der Zivilgesellschaft – aber institutionell können diese Akteure nur wenig ausrichten.»
Wieso kommt es gerade jetzt zu den Verhaftungen? Präsident Saied ist vor zwei Jahren mit seiner Reform auf viel Wohlwollen gestossen. Das Land befand sich damals wie heute in wirtschaftlich und politisch schwierigen Zeiten. Mittlerweile habe die Stimmung aber gedreht und der Rückhalt für den früher als starker Mann wahrgenommenen Saied sei stark zurückgegangen, erklärt Journalistin Mersch. «Die aktuelle Verhaftungswelle wird von vielen als Versuch des Staatspräsidenten angesehen, die Flucht nach vorne anzutreten.»
Tunesien steht zudem kurz vor der Zahlungsunfähigkeit und wurde kürzlich von der Ratingagentur Moody’s noch einmal heruntergestuft. Der Staat hat grösste Mühe, Beamtengehälter zu zahlen oder regelmässig Grundnahrungsmittel zu importieren. Die wirtschaftliche Krise und eine starke Inflation machen sich immer stärker bemerkbar.
Wie fest sitzt Präsident Saied noch im Sattel? Gemäss Sarah Mersch kommt Saied entgegen, dass die tunesische Bevölkerung den Glauben an die Politik grösstenteils verloren zu haben scheint. Bei den letzten Parlamentswahlen vor zwei Wochen gingen gerade einmal elf Prozent der Wählerinnen und Wähler an die Urne. Durch die Reformen der vergangenen Jahre hat das Parlament an Macht verloren.
Es dürfte – unabhängig von seiner politischen Zusammensetzung – nur wenig gegen das Gebaren des Präsidenten ausrichten können. «Die meisten Leute haben sich von der Politik entweder ganz verabschiedet oder lehnen den Prozess ab, weil sie alles, was in den letzten anderthalb Jahren seit der Machtübernahme des Präsidenten passiert ist, als nicht legitim ansehen», so Sarah Mersch. Zudem sei die Opposition stark gespalten.