Donnerstagmorgen, kurz nach 9 Uhr im italienischen Abgeordnetenhaus. Premierminister Mario Draghi wird mit langem Applaus empfangen. Doch die Rede des kühlen Ex-Bankers dauert nur eine Minute:
Er werde jetzt dem Staatspräsidenten Sergio Mattarella seine Absichten mitteilen. Inzwischen ist Draghi zurückgetreten, Italiens Staatschef Mattarella hat den Rücktritt dieses Mal angenommen.
Die Geschichte wiederholt sich
Fassungslos schaut Europa auf die Entwicklung im italienischen Parlament, das die Regierung stürzt, obwohl so viele Gemeinden, Regionen und Städte sich für die Regierung unter Draghi gestellt haben.
Was läuft falsch in «Bella Italia»? Antworten darauf hat Ulrich Ladurner. Der Journalist ist im Südtirol geboren und schreibt unter anderem für «Die Zeit». In seinem Buch «Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen» hat er die italienische Demokratie ausgeleuchtet.
Ladurners Verdikt: «Ein bisschen Drama gehört in Italien in der Politik dazu.» Aber diesmal seien die Parteien zu weit gegangen. «Das politische Theater muss jetzt aufhören!» Die Verantwortung dafür, warum das Land von einer Regierungskrise in die nächste schlittert, ortet er bei den Parteien. «Sie sind unfähig, über längere Zeit das nationale Interesse im Auge zu behalten.»
Wir erleben derzeit die schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.
Der Sturz der Regierung Draghi gibt ein Muster davon. In seiner letzten Rede rief er die Parteien auf, ihre eigenen Interessen hinter diejenigen des Landes zu stellen. Sein Appell verhallte im Parlament – und endete in einer Demütigung.
Naturgemäss haben Parteien unterschiedliche Vorstellungen, wie sie ein Land gestalten wollen. Und die eigene politische Agenda ist im besten Interesse des Landes.
Diesen Wettbewerb der Ideen findet Ladurner in einer Demokratie zwar zentral. «Doch diese Krise hat etwas Surreales. Es ist auch schwierig, sie in allen Windungen zu verfolgen. Irgendwo ist die Sache verrückt und auch nicht leicht auszuhalten.»
Politische Krise zur Unzeit
Der intime Kenner der italienischen Politik findet: Angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen Italien und Europa stehen, hätte es den Parteien gut zu Gesicht gestanden, einen Schritt zurückzutreten. «Sie hätten sagen können: ‹Wir haben eine Regierung der nationalen Einheit und werden daran bis zum Ende der Legislaturperiode im April 2023 festhalten›.»
Dies hätte Draghi Zeit für wichtige Reformen und den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes gegeben. «Draghi hat auch sehr gute Arbeit geleistet und hätte es verdient, die Legislatur zu Ende zu bringen», sagt Ladurner.
An Arbeit hätte es nicht gemangelt: Die Folgen der Pandemie sind gerade bei unserem südlichen Nachbarn schwerwiegend. Krieg, Inflation, Verschuldung und Energie- und Klimakrise bedrohen die drittgrösste Volkswirtschaft der EU.
Gefährliche Gemengelage
Der italienische Journalist relativiert zwar: Unterhalb der Regierungsebene habe es in Italien über die Jahrzehnte durchaus politische Stabilität gegeben. Und verloren sei das Land auch jetzt nicht. «Diese Regierungskrise ist aber gefährlicher als andere vor ihr.»
Denn das politische System sei derzeit nicht in der Lage, die Ergebnisse zu produzieren, um diese Krisen zu bewältigen. «Wir erleben die schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa», schliesst Ladurner. «Da würde ich erwarten, dass die Parteien ihre Kurzsichtigkeit ablegen.»
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