Die Wirtschaftsmetropole Schanghai wagt die Öffnung – dies nach zwei Monaten Lockdown mit harten Corona-Massnahmen, unter denen die Menschen und die Wirtschaft gelitten haben. Der öffentliche Verkehr soll wieder anrollen, Schulen und Läden sollen teilweise wieder öffnen, mit eingeschränkter Kapazität. Journalist Fabian Kretschmer über eine fragile neue Normalität.
SRF News: Die Behörden in Schanghai haben entschieden, wieder langsam zu öffnen. Wie reagieren die Menschen?
Fabian Kretschmer: Die Freude dominiert. Um Mitternacht sind viele Menschen auf die Strassen geströmt. Gerade die Jungen feierten regelrechte Partys. Andere zündeten Feuerwerk und fuhren erstmals wieder mit dem Auto raus. Solche Selbstverständlichkeiten waren in den letzten zwei Monaten nicht möglich. Die Menschen spüren wieder so etwas wie Freiheit. Das ist aber nur eine Seite der Medaille.
Der Lockdown hat tiefe Narben hinterlassen. Die Leute waren eingesperrt in ihrer Wohnung, der Lockdown hat wirtschaftliche Existenzen zerstört. Auf dem Höhepunkt des Lockdowns war man vollkommen abhängig von staatlichen Essenslieferungen. Man musste die Kontrolle über sein eigenes Leben abgeben; ein Ohnmachtsgefühl machte sich breit. Das war traumatisch.
Wie stark sind die Menschen denn noch eingeschränkt?
Der neue Normalzustand ähnelt demjenigen in vielen anderen grossen Städten in China. Man kann weitestgehend am öffentlichen Leben teilnehmen, aber nur unter einer Bedingung: Man muss sich regelmässig einem PCR-Test unterziehen. Dann kann man ein mehr oder weniger freies Leben führen. Viele Dinge sind aber noch nicht möglich. So sind etwa Kinos und Bars weiterhin geschlossen.
Die Null-Covid-Politik der Zentralregierung in Peking gilt nach wie vor. Einige neue Fälle reichen, damit die Situation wieder kippt.
Gleichzeitig sind die Menschen weiterhin ziemlich ängstlich. Mancherorts haben die Nachbarschaftskomitees, die Siedlungen auf unterster Ebene verwalten, ein soziales Stigma aufgebaut. Sie üben Druck auf die Nachbarn aus, dass man möglichst nicht rausgehen soll. Es ist zwar erlaubt, aber immer noch relativ gefährlich. Denn wenn sich jemand infiziert, müssen wieder alle in den Lockdown gehen.
Warum lockern die Behörden genau jetzt?
Eigentlich hätte der Lockdown nur fünf Tage dauern sollen. Mit jeder weiteren Woche wuchs der Unmut in der Bevölkerung. Der noch viel grössere Druck zu öffnen kam aber von der Wirtschaft. Die chinesischen Firmen hielten sich zwar mit direkter Kritik zurück. Aber von den ausländischen Unternehmen waren deutliche Worte zu hören. Viele drohten gar damit, die Produktion abzuziehen, wenn sich nicht bald etwas ändern würde.
Schanghai ist der wichtigste Wirtschaftsstandort in ganz China, der fast vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts generiert. Der Lockdown hinterliess gewaltige wirtschaftliche Schäden, zumal zeitweise 45 Städte im Land im Lockdown waren. Der Konsum und die Industrieproduktion sind eingebrochen.
Wie will man den Motor nun in Schwung bringen?
Das ist eine schwierige Frage. Denn die Null-Covid-Politik der Zentralregierung in Peking gilt nach wie vor. Einige neue Fälle reichen, damit die Situation wieder kippt. Gerade mit der hochansteckenden Omikron-Variante kann das schnell geschehen. In manchen Unternehmen leben die Angestellten nun in einem geschlossenen Kreislauf. Sie leben und arbeiten über mehrere Wochen auf dem Firmengelände. Planbarkeit, die die Firmen dringend brauchen, haben sie derzeit nicht. Es ist eine fragile Normalität.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.