Im einstigen Corona-Hotspot von Bergamo, der Stadt und Provinz mit der höchsten Todesrate durch Corona-Infektionen in Europa, beginnt die Suche nach den Verantwortlichen: Nachdem sich Angehörige von Verstorbenen auf sozialen Medien organisiert haben, ermittelt jetzt die italienische Justiz.
Staatsanwälte aus Bergamo reisen nach Rom und befragen den Chef des italienischen Gesundheitsamts, den Gesundheits- und die Innenministerin und sogar Regierungschef Giuseppe Conte. Es geht um die Rekonstruktion der Fakten und unterlassenen Entscheidungen, die Ende Februar ihren Lauf nahmen.
Aufarbeitung der Tragödie
In diesen frühen (Nicht-)Entscheiden soll die Ursache liegen für den schlimmsten Coronavirus-Infektionsherd Europas mit fast 6000 Toten allein in der Provinz Bergamo, wie der Stadtpräsident der gleichnamigen Stadt anprangert.
Dies im Widerspruch zur Regionalregierung der Lombardei, die nur von knapp über 3000 Toten spricht. Und die, wie viele jetzt behaupten, Teil des Problems sei.
Die Tageszeitungen «La Repubblica» und «Corriere della Sera» rekonstruierten eine Chronologie von Nachlässigkeit, Zögern und Kompetenz-Wirrwarr:
23. Februar: Codogno und andere Gemeinden in der Provinz Lodi werden zur Corona-Sperrzone in der Lombardei.
27. Februar: Die Provinz Bergamo verzeichnet 72 Neuansteckungen. Davon ist Nembro die viertstärkste vom Coronavirus betroffene Gemeinde in der Lombardei, aber weiterhin ohne jede Sperrzone.
28. Februar bis 02. März: Die Fallzahlen in Italien schnellen von 888 auf 2036 Infizierte hoch. Es gibt 52 Tote – der Löwenanteil in der Lombardei. Mailand und Bergamo aber wollen nicht schliessen.
Anfang März schlägt der Chefarzt für Infektionskrankheiten am Papst-Johannes-XXIII-Spital in Bergamo Alarm. Die Notaufnahme sei völlig überfordert, überall Patienten mit Atemnot und Symptomen einer schweren Lungenentzündung.
Der Gesundheitsverantwortliche der Lombardei spricht von «Alarmismus» und schliesst weitere Sperrzonen aus. Es beginnen Beschuldigungen zwischen der Regionalregierung in Mailand und der Zentralregierung in Rom. Wer entscheidet was? Wer ist verantwortlich, dass Schutzmasken und Hygienematerial fehlen?
3. März: Nach zehn Stunden Beratung beschliesst der Ministerrat in Rom: Schulen und Universitäten werden in ganz Italien geschlossen, Wirtschaft und Produktion aber nicht.
5. März: Rund um Bergamo halten sich Militär, Polizei und Carabinieri bereit. Über Nacht sollen sie neue Sperrzonen einrichten. Doch der Befehl kommt nicht.
6. März: Rom tagt weiter – auch mit dem Zivilschutz. Meinungen überschneiden sich. Entscheidungen werden keine gefällt.
7. März: Rom entscheidet, keine weitere spezielle Sperrzone einzurichten. Dagegen wird über die gesamte Lombardei und weitere 14 Provinzen in Norditalien der Lockdown verhängt. Doch das Sterben ist nicht mehr aufzuhalten.
Die Angehörigen der Toten wollen nun Antworten:
Die Hinterbliebenen eines Vaters etwa, der nach einem Herzschlag in die Reha-Klinik gebracht wurde und von der eigenen Familie nicht mehr gehört und gesehen wurde.
Die Tochter, die erst aus der Krankenakte erfuhr, dass ihr Vater mit schwerer Lungenentzündung nicht einmal mehr auf der Intensivstation behandelt wurde.
Die Geschwister, deren Mutter mit eigenen Kräften noch in den Krankenwagen steigen konnte, aber nur eine Woche später an Covid-19 verstarb.