Die Wassermenge, die nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms in der Südukraine entfesselt wurde, ist immens. Die Zerstörung ebenso. Auch einen Tag nach der Katastrophe steige der Wasserpegel weiter, melden unter anderem die ukrainischen Behörden im Gebiet Cherson.
Wahrscheinlich hat eine Kriegspartei den Damm gesprengt, die Zeichen deuten nach Russland; die Ukraine spricht von einem Ökozid. Während Evakuierungen laufen und die Menschen um ihr Hab und Gut fürchten, stellt sich eine weitere Frage: Welche Folgen haben die Wassermengen eigentlich für die Umwelt? ETH-Experte David Vetsch erklärt es.
SRF News: Die Überschwemmungen in der Südukraine sind gewaltig. Welche Folgen hat dies für die Umwelt?
David Vetsch: Dieses Ereignis ist ausserordentlich, mit verheerenden Folgen. Aber weil Gewässersysteme sehr komplex sind, ist auch die Analyse dieses Störereignisses nicht einfach. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je weniger der Mensch Einfluss auf die Natur genommen hat, desto schneller kann sie sich von solchen Katastrophen erholen.
Wie fest hat der Mensch also im betroffenen Gebiet in die Natur eingegriffen?
Der Fluss Dnipro unterhalb des Staudamms scheint mir auf den ersten Blick in einem ökologisch guten Zustand zu sein. Das bedeutet: Der Gewässerraum ist mehrere Kilometer breit, es gibt ausgeprägte Flussauen und der Fluss ist wenig bis gar nicht verbaut. Im Rahmen des Möglichen – wir sprechen hier wirklich von einem Extremereignis, bei dem auch vieles zerstört wird – hätte die Natur also eigentlich gute Voraussetzungen, sich zu regenerieren.
Dennoch sehen Sie eine Gefahr für die Flora und Fauna.
Genau, denn es sieht ganz danach aus, dass der menschliche Einfluss erst jetzt wirklich spürbar wird. Es ist die Rede davon, dass 150 Tonnen Maschinenöl in die Gewässer gelangten, weitere Unmengen drohen auszulaufen.
Lebensräume für Vögel werden zerstört oder Fische werden verenden.
Es ist auch davon auszugehen, dass es zu Verunreinigung durch Fäkalien kommt. Vermischen sich diese Schadstoffe mit dem Wasser, kann dies wirklich schlimme Folgen für die Ökosysteme haben. Es gäbe nachhaltige Schäden bei Flora und Fauna.
Wie sehen diese nachhaltigen Schäden aus?
Beispielsweise werden Lebensräume für Vögel zerstört oder Fische werden verenden. Wir müssen uns auch daran erinnern, dass nicht nur der Unterstrom, sondern auch der Oberstrom betroffen ist. Während es nämlich südlich des Damms viel zu viel Wasser hat, fehlt es im oberen Teil.
Ein See ist ebenso ein komplexes Ökosystem wie ein Fluss. Ist dieser ausgelaufen, kommt es auch dort zu einer starken Beeinträchtigung des Ökosystems. Und bis der See wieder voll ist, dürfte es nach dem Wiederaufbau des Damms noch mindestens ein Jahr dauern. Doch neben der wahrscheinlichen Ölverschmutzung besorgt mich noch ein anderes Szenario.
Sie spielen auf die Industriegebiete entlang des Stausees an.
Genau. Es ist nämlich möglich, dass die Sedimente, also der Bodensatz des Sees, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durch die Ausläufe der Industrie kontaminiert wurden. Verunreinigungen sind nie wünschenswert, doch im Sediment gebunden kann das je nach Substanz weniger oder mehr problematisch sein. Aber wenn ein See derart brachial geleert wird, können diese kontaminierten Sedimente mobilisiert werden. Werden diese dann stromabwärts abgelagert, kann dies dort zu einer Beeinträchtigung bislang unversehrter Ökosysteme führen.
Das Gespräch führte Pascal Studer.