Ausgerechnet Spanien, das vermeintliche Land des Machismo. Dort verabschiedete das Parlament am 22. Dezember 2004 ein Gesetz, das europaweit seinesgleichen suchte: das Gesetz – wie es wörtlich heisst – «über Massnahmen zum integralen Schutz gegen geschlechtsspezifische Gewalt». Es war ein historischer Moment. Ohne Gegenstimme sagte der spanische Kongress Ja.
Die ungewöhnliche Einigkeit hatte allerdings einen tragischen Hintergrund. Ein besonders grausamer Femizid – der Mord an Ana Orantes – hatte die spanische Gesellschaft aufgerüttelt. Der Fall offenbarte, wie das spanische Gesetzes- und Justizsystem den Schutz vor häuslicher Gewalt vernachlässigt hatte. Und vielen wurde klar, dass Gewalt an Frauen nicht eine Frage von Einzelfällen war, die als Privatsache abgetan werden können. Landesweit gingen Bürgerinnen und Bürger auf die Strasse, forderten Massnahmen.
Das spanische Pioniergesetz beinhaltet Massnahmen in verschiedenen Bereichen. So etwa in der Justiz. In Spanien existieren seither eigene Gerichtsabteilungen für Fälle von Gewalt gegen Frauen.
Das sei entscheidend, sagt Richterin Herminia Rangel-Lorente, denn betroffene Frauen befänden sich in einer besonders verletzlichen Situation: «Sie erzählen ihre Lebensgeschichte, Dinge, die sie noch nie zuvor erzählt haben und unter denen sie schon lange leiden.» Dank der eigenen Gerichtsabteilung falle es ihnen leichter, Anzeige zu erstatten.
Wir ermutigen die Frauen dazu, dass sie möglichst ausführlich aussagen.
Die Spezialisierung habe ein grosses Ziel: Zu verhindern, dass ein Opfer von Gewalt nicht nochmals zum Opfer werde, indem es von den Behörden nicht ernst genommen oder gar retraumatisiert würde, sagt Richterin Rangel.
Auch beim Strafmass gelten zusätzliche Regeln: So etwa ist Gewalt gegen eine Partnerin oder Ex-Partnerin strafverschärfend.
Auch in der polizeilichen Prävention hat Spanien nach 2004 aufgerüstet und ein ausgeklügeltes System zum Schutz von gewaltbetroffenen Frauen aufgebaut. VioGen heisst es, abgekürzt für violencia de genero – geschlechtsspezifische Gewalt.
Das Herzstück des Systems ist ein Algorithmus, der das Gefährdungspotenzial von Tätern berechnet, erklärt Belén Crego Sánchez, die beim Innenministerium für VioGen zuständig ist. «Wenn eine Frau eine Anzeige macht, füllen die Polizistinnen und Polizisten ein Formular aus – mit über dreissig Indikatoren.» Aus diesen berechnet der Algorithmus das Risikoniveau.
Je nachdem leite die Polizei unterschiedliche Massnahmen ein: «Die extreme Risikostufe zum Beispiel hat einen 24-Stunden-Schutz für die Frau zur Folge. Und eine intensive Kontrolle des Aggressors.»
Nur auf den Algorithmus stütze man sich allerdings nicht ab. Es komme immer eine persönliche Einschätzung der Polizistinnen und Polizisten dazu.
Das Wichtigste ist: Die Polizistinnen und Polizisten können die Risikostufe erhöhen, aber niemals verringern.
Das Präventionssystem VioGen, eigene Gerichte: Die beiden Beispiele illustrieren, wie Spanien den Kampf gegen Gewalt an Frauen angegangen ist. Das Prinzip dahinter ist, eigene Institutionen, Normen und Abläufe zum Schutz der Frauen bereitzustellen.
Europarat kam zehn Jahre später
Ein Prinzip, das inzwischen weitherum angewandt wird. Zehn Jahre nach dem spanischen Gesetz setzte der Europarat ähnliche Anliegen um – mit der so genannten Istanbul-Konvention zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. In der Schweiz trat die Konvention 2018 in Kraft, der bundesrätliche Aktionsplan zur Umsetzung stammt von 2022.
So arbeitet man in der Schweiz teilweise an Massnahmen, die in Spanien seit fast zwanzig Jahren bereits praktiziert werden. Ein Beispiel dafür ist die spezielle Notfallnummer für häusliche Gewalt.
In Spanien können Betroffene die 016 wählen. In der Telefonzentrale in Madrid sind rund um die Uhr Fachpersonen bereit und nehmen die Anrufe entgegen. In Notsituationen leiten sie die Frauen an die Polizei weiter.
Häufiger aber bieten die Angestellten Beratungen an. Frauen, die von Gewalt betroffen seinen, bräuchten zum Beispiel rechtliche Informationen, sagt Susana Gálvez, Leiterin der 016-Zentrale.
Oft aber gehe es auch nur um Aufklärung: «Viele, besonders junge Frauen, sind unsicher, wissen nicht, ob das, was sie erleben, Gewalt ist oder nicht», erklärt Gálvez, «weil sie gelernt haben, machistische Verhaltensweisen als normal zu empfinden: Sei es übertriebene Eifersucht, seien es Drohungen oder sexuelle Übergriffe.» Die Beraterinnen helfen, die Geschehnisse einzuordnen.
Schweiz plant Notfallnummer für November
Eine spezielle Notfallnummer für häusliche Gewalt soll in der Schweiz dieses Jahr auf Anfang November eingeführt werden. Ob es auch die 016 oder eine andere dreistellige Nummer sein wird, ist noch nicht entschieden.
Femizide gingen zurück, aber nur anfangs
Die Vorreiterrolle Spaniens im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt ist zwar anerkannt. Der Erfolg der Massnahmen ist aber schwierig zu messen.
Einen Hinweis können Statistiken liefern - so etwa die Anzahl Femizide. Diese ging in Spanien nach der Einführung des Gesetzes tatsächlich zurück: von über 70 pro Jahr auf rund 50. Seit einigen Jahren aber stagniert die Zahl.
Spanien hat eine der niedrigsten Opferraten der Welt.
«Fünfzig Tote, das sind viele. Jede Person, die ein Opfer von Gewalt wird, ist eine zu viel», sagt dazu Marisol Lila, Psychologie-Professorin in Valencia. Sie relativiert aber: «Wenn man es mit anderen Ländern vergleicht, hat Spanien eine der niedrigsten Opferraten der Welt.»
Internationale Vergleiche sind allerdings nicht einfach, denn nicht überall werden Femizide offiziell als eigene statistische Kategorie erfasst, so etwa auch nicht in der Schweiz. Hier gehen Expertinnen von über 20 Fällen pro Jahr aus. Wenn man die Zahl in Beziehung zur Gesamtbevölkerung setzt, sind das gut doppelt so viele wie in Spanien. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist also längst nicht ausgefochten.