Ausgelöst hatte die Debatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas argumentierte darauf in einem Tweet, Reisen nach Europa seien ein Privileg, kein Menschenrecht. Ausserdem sei die grosse Zahl russischer Touristinnen und Touristen, die übers Baltikum in die EU reisten, ein Sicherheitsrisiko, da nicht alle überprüft werden könnten.
Der Aufschrei auf russischer Seite war gross. Nicht nur fühlten sich die Propagandisten des Kremls in ihrer Behauptung bestätigt, der Westen sei generell russophob. Auch Kremlkritiker und Dissidentinnen reagierten empfindlich bis sehr emotional, was ihnen den Vorwurf einbrachte, nur an ihre eigenen Bedürfnisse statt an die Ukraine zu denken.
Was ist wichtiger?
Anton Barbaschin gehört zu diesem kremlkritischen Milieu. Der Politologe und Chefredaktor des Online-Mediums Riddle Russia versucht aber, kühlen Kopf zu bewahren. Er sagt am Telefon, er verstehe das Argument durchaus, dass man keine russischen Touristen wolle, die sich vergnügten, während in der Ukraine Menschen getötet würden. Er verstehe auch, dass die Ukraine Priorität habe.
Zugleich sei aber die Repression in Russland zurzeit enorm stark. Gegen alle, die dem Regime irgendwie Widerstand leisteten oder versuchten, über den Krieg zu informieren: «Ich möchte nicht, dass diese Leute im Gefängnis landen, weil sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen auszureisen.»
Ich möchte nicht, dass diese Leute im Gefängnis landen, weil sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen auszureisen.
«Wenn gegen jemanden ein Strafverfahren eröffnet wird oder man Grund zur Annahme hat, dass man bald verhaftet wird, hat man keine Zeit, zur Botschaft eines europäischen Landes zu gehen, in der Schlange zu warten und um ein humanitäres Visum zu bitten», erklärt Barbaschin. Dann müsse man auf ein Touristenvisum zurückgreifen können.
Barbaschin, der sich zurzeit in der EU aufhält, plädiert dafür, sich genau zu überlegen, was man mit einem Visa-Stopp erreichen wolle. Eine Schwächung des russischen Regimes jedenfalls sei mit einem solchen Einreiseverbot nicht zu erreichen.
Oppositionelle in Russland auf verlorenem Posten
Selbst wenn alle Oppositionellen von Europa gezwungen würden, nach Russland zurückzukehren, würde das Putin nicht stürzen, so Barbaschin: «Wir haben schon auf viele Arten und unter besseren Bedingungen erfolglos versucht, gegen das Regime anzukämpfen.» Und für ein gewaltsames Vorgehen seien diese liberal und prodemokratisch gesinnten Oppositionellen nicht zu haben.
Wir haben schon auf viele Arten und unter besseren Bedingungen erfolglos versucht, gegen das Regime anzukämpfen.
Laut Barbaschin wird die Diskussion auch auf russischer Seite sehr emotional geführt. Er könne sich in die Leute hineinversetzen, die jahrelang mit allen möglichen Mitteln versucht hätten, dem Putin-Regime zu widerstehen, und die immer wieder Niederlagen hinnehmen mussten.
Europa gegen neuen eisernen Vorhang
Und nun, da alle Strukturen des Widerstands zerschlagen seien, habe der Krieg begonnen, und diese Leute seien verzweifelt und entmutigt. Und nun könne es so weit kommen, dass Europa diesen Leuten sage: «Wir wollen Euch bei uns nicht mehr.» Und zwar dieses Europa, dass für sie immer Vorbild gewesen sei, in all ihren Bemühungen. Sie hätten nun Angst, hinter einem neuen eisernen Vorhang zu verschwinden, sagt Barbaschin.