Bröckelnde Parteibindungen, immer mehr Wechselwähler: Die animierte Deutschlandkarte mit der Gewinnerpartei für jeden Wahlkreis zeigt, wie ganze Regionen ihre Farbe von 2009 bis 2021 von Wahl zu Wahl ändern. Sie bildet die grossen Trends seit 2009 ab - etwa den Niedergang der Linken, das Aufkommen der AfD oder den Wahlsieg der SPD nach dem Abgang Merkels:
Gewinner der Wahlkreise
Allerdings: Die Darstellung greift etwas zu kurz. Schliesslich wählt Deutschland nicht nach dem Prinzip «the winner takes it all», sondern in einem ausgeklügelten Proporz-Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimmen.
Es lohnt sich darum, einen detaillierten Blick auf die Entwicklung der Wähleranteile der sechs grössten Parteien von 2009 bis 2021 zu werfen:
SPD: Das Ende einer Volkspartei?
In Zeiten der Industrialisierung wurde die SPD gross, sie ist die älteste Partei Deutschlands. Immer ein zentrales Anliegen: Aufstieg, Bildung, Gerechtigkeit. Viele dieser Anliegen wurden erfüllt – so gesehen ist die Partei Opfer ihres eigenen Erfolgs. Die einstigen Arbeiter-Hochburgen im Ruhrgebiet, jahrzehntelang fest in SPD-Hand, bröckeln. Dort wo früher Kohle gefördert wurde, arbeiten heute junge Leute in Start-up-Firmen. Der klassische Arbeiter, die klassische Arbeiterin, mit Staub im Gesicht und Schmutz an den Händen, verschwindet immer mehr. Stattdessen ist die SPD heute in vielen Gebieten die Partei der Bildungsbürger, der Lehrerinnen und anderen Akademikern. Ein Hoch hatte die Partei nach dem Abgang Merkels, der Veränderungswunsch vieler Menschen in Deutschland war gross. Doch jetzt steht die Partei bei 15, 16 Prozent – und müsste dringend neue Wählerschichten erschliessen. Dabei gilt der Osten Deutschlands als verloren – hier ist fast alles blau, alles AfD.
CDU/CSU: Abkehr von der Mitte?
Die Partei Adenauers, fest verwurzelt im rheinischen Katholizismus, ist im Laufe der Jahre immer mehr in die Mitte gerückt. Besonders unter Kanzlerin Angela Merkel. Früher galt die Devise: Rechts der CDU – und auch der CSU in Bayern – darf es nichts geben. Doch Merkel, im Bestreben, möglichst breite Wählerschichten zu erreichen, rückte die Partei in die Mitte, ganz nah an die SPD. Die beiden Parteien waren kaum noch zu unterscheiden. Im neu entstandenen Vakuum rechts der CDU gab es plötzlich Raum – das begünstigte den Aufstieg der AfD, der Alternative für Deutschland. Besonders deutlich ist die Einmittung der CDU am Beispiel der Flüchtlingskrise zu sehen: 2015 öffnete Angela Merkel die Grenzen, auch geschuldet ihrem Hintergrund als Pfarrerstochter. Merkel übersah, dass viele Menschen mit der Integration überfordert waren – ihr Nachfolger Olaf Scholz priorisierte dieses Problem ebenfalls nicht. Hier setzt Kanzlerkandidat Friedrich Merz ganz andere Akzente: Die CDU soll wieder nach rechts, zurück zur konservativen Bürgerlichkeit. Ein schwieriger Weg, wie jüngst die Abstimmung über ein strenges CDU-Regime an den Grenzen zeigte, das nur mit Stimmen der AfD durchkam.
Grüne: Was wollen wir eigentlich?
Der Kampf gegen Atomkraft, der Kampf für Frieden: Diese beiden Anliegen machten die Grünen in den 1980er-Jahren gross, sie sprengten das bisherige Drei-Parteien-System aus CDU/CSU, SPD und den Liberalen. Die Grünen ganz Links, das war neu. Unter Gerhard Schröder kamen die Grünen erstmals in die Regierung – ein rot-grünes Bündnis wurde möglich. Mit dem Klimawandel – und konkret auch der Atomkatastrophe in Fukushima – erlebten die Grünen einen Höhenflug, sie strebten vom linken Rand in die Mitte. Die Grünen sind vor allem eine westdeutsch geprägte Partei, es gibt kaum prominente Ost-Grüne. Ausser sie sind zugezogen wie Annalena Baerbock, deren Wahlkreis in Potsdam liegt. In der gescheiterten Ampel-Regierung arbeiteten die Grünen mit SPD und FDP zusammen – das brachte die Partei an die Grenzen des möglichen. Immer unterteilt in den sogenannten Realo- und Fundi-Flügel, gewannen die Realos unter Robert Habeck die Oberhand. Die Grünen mussten manche Kröte schlucken, vor allem in Bezug auf Immigration, aber auch bei Waffenlieferungen an die Ukraine oder dem stockenden Ausbau der Erneuerbaren. Sind die Grünen nun radikale Öko-Partei – oder Volkspartei? Eine Gratwanderung.
FDP: Die Porsche-Partei
Parteichef Lindner trägt Rolex. Das freut die Manufaktur in Biel – und zeigt klar, wo die Partei hingehört: Ins Unternehmer- und Freiberufler-Milieu. Wenig Staatsverschuldung, mehr Freiheiten, weniger Regeln und Bürokratie. Im alten bundesrepublikanischen Drei-Parteien-System waren die Liberalen die Königsmacher, regierten mal mit der SPD, mal mit der CDU. Heute ist die FDP eine Kleinpartei, kämpft um den Einzug in den Bundestag. die über 10 Prozent von 2021 sind kaum oder gar unmöglich zu erreichen. Die Ampel schadete den Liberalen, sie musste Anliegen der SPD und den Grünen mittragen, die ihrer DNA so gar nicht entsprechen: Bürgergeld, Atomausstieg, keine Steuersenkungen. Im Osten ist die FDP fast marginalisiert, flog aus Landtagen. Stark ist die FPD in Ballungszentren, dort, wo das Geld verdient wird.
Linke: Auferstehen aus Ruinen?
Als Sammelsurium und Nachfolge-Organisation der DDR-Partei SED im Osten gestartet, wurde die Linke bald zu einer wichtigen Kraft. Viele Menschen fanden nach der Wende eine neue politische Heimat. Figuren wie Gregor Gysi, Oskar Lafontaine oder Sahra Wagenknecht zogen. Im Westen bestand die Partei lange aus kommunistisch angehauchten Romantikern, Alt-Maoisten, Alt-68ern. Die pragmatischen Ossis und die schwärmerischen Wessis zogen in wichtigen Fragen aber am selben Strick, kämpften gegen die Einmittung der SPD. Noch immer ist die Linke im Osten stärker als im Westen – und drohte nach dem Abgang von Linken-Ikone Wagenknecht zu zerbrechen. Doch in den Wochen vor der Wahl ist ein Aufwind zu spüren – vor allem die junge Abgeordnete Heidi Reichinnek kommt an, auf TikTok läuft die Mobilisierung der jungen Menschen. Die Bundestagswahl 2025 ist eine Schicksalswahl für die Linke. Schafft sie es ins Parlament, kann sie sich als Partei links der SPD profilieren – vielleicht sogar zur AfD abgewanderte Wählerinnen und Wähler zurückholen.
AfD: Rechtsaussen in Deutschland
«Rechtsaussen» gilt für die AfD sowohl politisch wie auch geografisch. Der Osten ist blau – in der ehemaligen DDR wählen viele Menschen AfD, vielerorts ist sie die stärkste Partei. Einst gegründet als Anti-Euro-Partei, profiliert sich die AfD heute vor allem mit dem Thema Migration. Und mit «Dagegensein». Dem Kanzler wirft Parteichefin Weidel vor, er «hasse Deutschland». Die AfD will aus dem Euro raus, Distanz zur EU, weg von der Nato, hin zu Russland. Sie bewirtschaftet Ängste – schraubt sie hoch – und gewinnt so Wählerinnen und Wähler. Im Westen ist die Verwurzelung der AfD weniger gross, ungefähr zehn Prozent gegenüber 30 Prozent im Osten. An der Regierung ist die AfD in keinem Bundesland – niemand will mit der Partei regieren. Im Fall der AfD wird der Ost-West-Graben in Deutschland am deutlichsten. Im Osten gibt es auch kein lange gewachsenes Bürgertum, keine glaubwürdigen Eliten, welche der AfD gesellschaftlich substanziell etwas entgegensetzen könnten.
Wird Deutschland unregierbar?
Am Wahlsonntag wird die CDU wohl als Siegerin in den Diagrammen stehen – mit rund 30 Prozent. Doch dann steht CDU-Chef Merz vor einer schwierigen Aufgabe: Mit wem regieren? Reicht es für Schwarz-Rot – und machen die Sozialdemokraten das mit? Oder sind die Verletzungen zu gross, das Misstrauen zu tief? Und was, wenn Merz neben den Roten die Grünen braucht? Wird sich Merz mit den Grünen einlassen, einlassen müssen? Trotz Widerstand aus der eigenen Partei und vor allem der CSU in Bayern? Was werden die Liberalen tun, falls sie es in den Bundestag schaffen? Kommen sie wieder in eine Regierung mit der SPD – unter Führung der CDU? Klar ist: Wer immer zusammen regieren wird, tut dies nicht aus gemeinsamen Überzeugungen. Sondern nur, um die AfD auf der Regierungsbank zu verhindern. Streit ist vorprogrammiert – sich freuen und davon profitieren – wird einzig die AfD.