In Berlin hat der Vorstand der SPD Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten nominiert. Dies nachdem die Partei tagelang öffentlich darüber diskutiert hat, ob sie nicht doch lieber mit Boris Pistorius in den Wahlkampf ziehen sollte. Der Politologe und Parteienforscher Frank Decker erklärt, warum man den angezählten Kanzler nicht unterschätzen sollte.
SRF News: Warum setzt die SPD trotz dessen Unbeliebtheit auf Olaf Scholz?
Frank Decker: Ganz einfach, weil er der Kanzler ist. Die Partei hätte sich in eine unmögliche Situation gebracht, wenn sie einen anderen Kandidaten nominiert hätte. Scholz wäre im Wahlkampf Kanzler geblieben. Das Risiko, mit einem anderen Kandidaten in die Wahl zu gehen, wäre unter dem Strich grösser gewesen.
Vertreter der SPD-Führungsspitze betonen, dass Scholz schon bei den letzten Wahlen einen Rückstand in einen Sieg verwandelt habe. Ist es realistisch, dass ihm das wieder gelingt?
Die Union ist durch ihren grossen Vorsprung in den Umfragen in einer haushohen Favoritenrolle. Das kann aber auch eine Bürde sein. Für die SPD kommt es nun darauf an, dass sie aufholt. Der eigentliche Wahlkampf wird erst in der zweiten Januarwoche losgehen. Dabei ist der Hinweis naheliegend, dass es bereits in früheren Wahlkämpfen gelungen ist, das Rennen noch zu drehen. Auch schon 2005 hat Gerhard Schröder aus fast aussichtsloser Lage die Wahl beinahe noch gewonnen.
Ist das nicht bloss die Hoffnung der Verzweifelten?
Das ist sicherlich richtig. Es ist nun zentral für die SPD, dass sich alle hinter Scholz versammeln und in diesem schwierigen Winterwahlkampf für ihn auf die Strasse gehen. Die Partei muss auf Themen setzen, die dem politischen Gegner Schwierigkeiten bereiten könnten: So etwa die Sicherung von Arbeitsplätzen in der Industrie und den Erhalt des Sozialstaates, gerade bei den Renten.
Die SPD hat sich mit der öffentlichen Debatte über Scholz und Pistorius massiv geschadet.
In der Aussenpolitik wird der Kanzler auf die mittlere Linie setzen, die er bei der Unterstützung der Ukraine eingeschlagen hat. Aus dieser Konstellation könnten sich für die SPD Möglichkeiten ergeben, um aus der Defensive heraus zu kommen.
Gut zehn Tage lang wurde öffentlich darüber diskutiert, ob Pistorius der bessere Kanzlerkandidat als Scholz wäre. Hat sich die SPD mit dieser Debatte selber geschadet?
Sie hat sich damit massiv geschadet. Es war ein grosser Fehler, das Momentum des Koalitionsbruchs nicht für sich zu nutzen. Die Recherchen der Zeit und der Süddeutschen Zeitung haben gezeigt, dass die SPD mit ihrer Erzählung, dass die FDP den Bruch der Koalition wollte, durchaus recht hatte. Das hätte man nutzen können und Scholz in dieser Situation direkt als Kanzlerkandidat ausrufen müssen.
Wenn sich die Reihen hinter Scholz nun schliessen, kann das alles schon bald vergessen sein. Wenn sich aber spätestens im Januar keine Aufholjagd abzeichnet, könnten die Diskussionen, ob man auf den richtigen Kandidaten gesetzt hat, neu beginnen.
Als sich Pistorius aus dem Rennen genommen hat, hat die CDU hörbar aufgeatmet. Denn ihr Spitzenkandidat Friedrich Merz ist zwar ebenfalls unbeliebt – aber weniger unbeliebt als Scholz. Kann die CDU aber tatsächlich von seiner erneuten Kandidatur profitieren?
Ich wage zu bezweifeln, dass Pistorius für die Union der schwierigere Kandidat gewesen wäre. Auch seine Kandidatur hätte Risiken geborgen. Bei den wichtigen Themen der Sozial- und Wirtschaftspolitik ist er bei Weitem nicht so mit der Materie vertraut wie der amtierende Kanzler. Scholz sollte man keinesfalls unterschätzen.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.