SRF News: Welche Krise beschäftigt die Griechen mehr, die Flüchtlings- oder die Wirtschaftskrise?
Petro Markaris: Ich würde sagen, beide beschäftigen sie aus verschiedenen Gründen. Wegen der Finanzkrise geht es dem Land schlecht. Die Griechen haben die Hoffnung und den Mut aufgegeben. Sie glauben gar nichts mehr, auch nicht mehr an diese Regierung. Das führt dazu, dass die Stimmung im Land sehr schlecht ist.
Wie zeigt sich die Flüchtlingskrise im Alltag?
Im Athener Alltag merkt man das nicht so stark. Es kann sein, dass sich ab und zu Flüchtlinge auf einem Platz versammeln, aber dann gehen sie weg oder werden von der Polizei vertrieben. Das grosse Problem in Griechenland sind die Inseln und die Grenze zu Mazedonien.
Neu können Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland gelangen, zurückgeschafft werden. Bringt das Griechenland etwas?
Ich weiss nicht, wie effizient das System funktioniert. Es kommen viel weniger Menschen in den letzten Tagen, das stimmt, und es ist so, dass tatsächlich Flüchtlinge wieder in die Türkei zurückgebracht werden. Was in Griechenland mit den verbleibenden Menschen passiert, weiss ich auch nicht. Diese Leute wollen doch nicht bleiben, sie wollen nach Mitteleuropa, vor allem nach Deutschland.
In Deutschland hat die Flüchtlingskrise dazu geführt, dass sich eine nationalistische Gruppe wie die AfD stärker profilieren konnte. Sehen Sie so etwas Ähnliches in Griechenland?
Ich war bis vor einigen Tagen optimistisch. In allen Umfragen hat die Goldene Morgenröte, also die Neonazi-Partei, wegen der Flüchtlingskrise nicht dazugewonnen. Sie blieb bei sechs Prozent, wie bei den letzten Wahlen. In den letzten Tagen aber macht sich die Goldene Morgenröte jeden Tag mehr bemerkbar. Sie demonstriert und es gibt Zusammenstösse mit der Polizei und mit Gegengruppen. Das ist kein gutes Zeichen.
Sie haben die Hoffnungslosigkeit angesprochen. Wie hat denn die Regierung Tsipras die Hoffnung verspielt?
Weil Tsipras Partei, als sie noch in der Opposition war, so viel versprochen hat. Jeder vernünftige Mensch wusste, dass das nicht funktionieren wird. Zudem gab es in den ersten Monaten nach der Wahl dieses grossmaulige Reden über Europa: «Wir machen Europa anders», sagten sie. Es endete im dritten Memorandum.
Nun wissen die Griechen, was noch auf sie wartet, nämlich weitere Rentenkürzungen, mehr Steuern und auch indirekte Steuern. Es ist schon klar, dass es so kommen wird. Die Griechen haben das Gefühl, dass die vorherigen Regierungen eine Enttäuschung waren, und jetzt haben sie noch die letzte Enttäuschung erlebt, und das ist Syriza und ihr Koalitionspartner.
Immerhin kommt Syriza nicht aus dem gleichen Filz, der Griechenland jahrelang regiert hat.
Das ist nicht so klar. Nach dem Fall der Pasok-Regierung ist eine ganze Reihe von Pasok-Bonzen zur Syriza migriert. Also hat auch Syriza ein System, das im Staatsapparat verankert ist. Und Syriza versucht, diese Leute zu schonen, so wie es auch die früheren Parteien gemacht habe.
Haben sich die Griechen in der Zwischenzeit eingestanden, dass sie die Finanzkrise mitverursacht haben?
Wenn Sie mit Griechen sprechen, dann sagen die: Natürlich haben wir auch Fehler gemacht, aber die Europäer…
Aus Ihrer Sicht zurecht?
Nein. Ich glaube, was man alles mit der EU oder dem IWF durchmachen mussten, kommt von unseren eigenen Fehlern. Die Europäer sind nicht von sich aus gekommen. Wir waren praktisch bankrott und sie mussten, oder wir wollten, dass sie intervenierten. Dass die Europäer Fehler begangen haben und immer noch Fehler begehen, ist ein anderer Punkt.
Nun sind die Griechen frustriert von Syriza, sie sind frustriert von den traditionellen Parteien, den Rechtsextremen trauen sie wirtschaftspolitisch nicht, sie sind enttäuscht von der EU. Was kommt als nächstes?
Ja, das ist auch meine Angst. Was kommt? Ich bin zunehmend unruhiger.
Was befürchten Sie?
Ich befürchte, dass es zu Ausschreitungen kommen könnte. Einerseits in Form von Protesten gegen die Regierungspartei, andererseits auch von den Flüchtlingen. Zumindest eines kann man den Griechen nicht nachsagen, nämlich dass sie nicht gastfreundlich und menschlich gegenüber den Flüchtlingen waren. Sie haben sie mit allen Mitteln unterstützt. Sie haben sie bei schlechtem Wetter sogar bei sich wohnen lassen. Aber die Situation radikalisiert sich jeden Tag, vor allem auf den Inseln. Die Leute auf den Inseln haben kein anderes Einkommen als die Touristen. Und wenn diese wegen der Flüchtlinge ausbleiben, dann wird den Flüchtlingen die Schuld zugeschoben werden.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.