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Die vergessene EU-Aussengrenze Polen zwischen Grenzschützern und Flüchtlingshelfern

Polens vergessene Grenze zu Belarus: Flüchtlinge sind dort offiziell nicht willkommen – doch Anwohner helfen. Die Reportage aus der «verbotenen Zone».

Gegen zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge sind schon in Polen angekommen, das Engagement auf polnischer Seite ist überwältigend. Ganz anders sieht es an der Grenze zu Belarus aus, wo Menschen von ausserhalb Europas versuchen, das EU-Land zu erreichen. Diese Grenze ist streng abgeriegelt, Auswärtige dürfen nicht einmal in die Nähe.

Steine werfen zur Ablenkung

Die Infrarot-Kamera sitzt auf dem Dach eines Geländewagens des polnischen Grenzschutzes, sie schwenkt in Richtung Stacheldrahtzaun. Dahinter: Belarus und Europas letzter Urwald. Kilometertief kann das Infrarot dort eindringen. «Denken Sie daran», sagt Major Katarzyna Zdanowicz zu den Journalistinnen und Journalisten, «Sie müssen 15 Meter Abstand halten zur Grenze.»

Hinter dem Zaun, in Belarus, verschwinden ein paar Uniformierte im Wald. Vor dem Zaun, in Polen, liegen grosse Steine. «Die belarussischen Grenzer werfen Steine nach uns, um uns abzulenken», sagt die polnische Grenzschützerin.

Mit Infrarot-Kameras bewacht der polnische Grenzschutz die Gegend.
Legende: Mit Infrarot-Kameras bewacht der polnische Grenzschutz die Gegend. srf

Angefangen damit haben sie im Herbst: Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko holte zehntausende Menschen aus dem Irak, aus Syrien, Afghanistan und afrikanischen Ländern zu sich – und schickte sie über die polnische Grenze in die EU. Polen sprach von einem «hybriden Krieg». «Hier sind die Menschen mit Leitern über den Zaun geklettert», erklärt Major Zdanowicz. Polen baut gerade überall dort eine Mauer, wo kein Wald ist.

Grenzposten erleichtern.
Legende: Eine Mauer soll bald die Arbeit der Grenzposten erleichtern. srf

Leeres Land. Aber dort, im Gebüsch, Fetzen eines Zelts, Spuren eines Feuers – es kommen wieder deutlich mehr Menschen über die Grenze. «Gestern waren es 72», sagt die Grenzschützerin. Offenbar schickt Lukaschenko jetzt hunderte Geflüchtete über die Grenze, die den Winter in Lagerhallen in Belarus verbracht haben. Und inzwischen gibt Polen ohne Umschweife zu, dass es die Menschen ohne Asylverfahren zurückschickt. «Ja, wenn wir jemanden entdecken, der illegal nach Polen gekommen ist, schicken wir ihn oder sie zurück.»

Verstoss gegen das internationale Völkerrecht

Das erlaubt neuerdings das Gesetz in Polen. Das verbietet allerdings das internationale Völkerrecht. Denn jeder Mensch hat das Recht auf ein Asylverfahren. Zdanowicz aber findet, ihr Land müsse sich wehren gegen die Attacke aus Belarus, zumal die meisten Geflohenen ohnehin kein Asyl bekämen.

Es ist natürlich in Ordnung, den Geflüchteten zu helfen, aber man muss dann sofort die Grenzer anrufen.
Autor: Katarzyna Zdanowicz Grenzschützerin

«Doch wenn es jemandem schlecht geht, dann helfen wir mit Decken, Getränken, Essen.» Kranke brächten die Grenzschützer ins Spital. Und weil der Grenzschutz helfe, müssten Privatleute das nicht.

«Es ist natürlich in Ordnung, den Geflüchteten zu helfen, aber man muss dann sofort die Grenzer anrufen.» Zdanowicz findet es richtig, dass nur Anwohner das Grenzgebiet betreten dürfen. Sonst gebe es bloss noch mehr Szenen wie diese: Einmal nachts hätten Grenzschützer Helfer mit Geflohenen verwechselt – und ihnen die Pistole an den Kopf gehalten.

Kreisende Helikopter suchen nach Geflüchteten

In einem Dorf hängt ein Plakat: «Wir danken Armee und Grenzschutz.» So sehen das viele Menschen hier. So sehen es aber längst nicht alle.

Der erste Versuch, jemanden zu treffen, der in der «verbotenen Zone» wohnt und den Flüchtlingen hilft, wird von der Polizei unterbunden. Am Abend dann kontrolliert niemand mehr. Der Mann, dessen Name nicht genannt werden soll, der mit seiner Katze in einem kleinen Holzhaus wohnt, erzählt, wie ihn die Polizei den ganzen Winter lang jedes Mal auf dem Heimweg kontrollierte. Fotos machte von Pullovern im Kofferraum, die er für sich und Nachbarn gekauft hatte, ihn eine Stunde lang aufhielt.

Zäune und Patrouillen
Legende: Zäune und Patrouillen: Die Grenze ist streckenweise gut gesichert. srf

Er kennt den Wald dieser Gegend, er führt normalerweise Touristen hindurch – und er war in den letzten Monaten ständig dort, um Geflüchteten zu helfen, die in der Kälte festsassen. Er versteckte zwei Syrerinnen bei sich zu Hause. «Es kreisten dauernd Helikopter über dem Dorf, also schickte ich die Frauen tagsüber in den Estrich.» Schlecht sei es ihnen gegangen. Inzwischen hätten sie es aber nach Deutschland geschafft. Und er ist längst nicht mehr der einzige im Dorf, der hilft.

«Es war hier früher sehr ruhig.» Der Lärm, die Aufregung, die Soldaten und Grenzschützer mitbrächten, mache mittlerweile die meisten Leute so wütend, dass sie Geflohenen helfen – und nicht mehr den Grenzschutz anriefen.

Ein Dorf weiter. Im Regen verschwimmt das grüne Licht über Kamil Syllers Tür. Er und über hundert andere in der Gegend lassen es brennen, damit Geflüchtete wissen: Hier gibt es Hilfe. Der Letzte, der sie in Anspruch nahm, war ein Saudi, vor einer Woche.

Grünes Licht an einem Haus.
Legende: Grünes Licht heisst Hilfe für Geflüchtete. srf

«Die Frage ist ja nicht: Warum hilfst du? Sondern: Wie kann man nicht helfen?», sagt Syller. Mitgefühl – und Hass: Er hasse die polnischen Soldaten, sagt er, und die Regierung. Die schweren Armeelastwagen hätten die Strassen der Gegend so schwer beschädigt, dass die mobilen Läden nicht mehr in die kleinen Dörfer fahren könnten. Alte Leute wüssten nicht mehr, wo einkaufen.

Die Frage ist nicht: Warum hilfst du? Sondern: Wie kann man nicht helfen?
Autor: Kamil Syller Flüchtlingshelfer

Und die Regierung habe ein grausames, ineffizientes Asylrecht eingeführt. Syller ist Anwalt. Er weiss, dass er Geflüchteten helfen darf, mit Essen, mit Strom für Mobiltelefone. Aber nicht mit der Weiterfahrt. Gerade heute hat ihn der Grenzschutz wieder aufgeboten, als Zeuge gegen Schlepper. Einschüchterung, sagt er.

Kamil Syllers
Legende: Kamil Syller: «Eine Verurteilung wäre für mich wie eine Urkunde der Menschlichkeit.» srf

«Wobei: Eine Verurteilung wäre für mich wie eine Urkunde der Menschlichkeit.» Syller ärgert sich aber auch über viele Geflüchtete, über ihre Naivität. «Sie kommen mit nichts anderem als ihrem irakischen Dialekt und sagen: Jetzt gib mir einen tollen Job.» Das kann Syller nicht.

Furcht vor dem Frühling

Aber er versucht zumindest, die Menschen vor der Abschiebung nach Belarus zu bewahren, indem er Schutzbriefe beantragt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Manchmal klappt das. Aber es bedeutet viel Arbeit. Syller ist erschöpft, wie alle Helfer.

Und er fürchtet sich vor dem Frühling, davor, dass wieder mehr Geflüchtete kommen. Und davor, dass man noch mehr Leichen finden könnte im Wald, mehr als die 20, die man schon gefunden hat.

Gräber.
Legende: Helfer befürchten, dass in den Wäldern in Polens Osten bald noch mehr Leichen auftauchen. srf

 

Echo der Zeit, 18.03.2022, 18:00 Uhr

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