Drohende Eskalation: Die Angst vor einem grossen Krieg im Nahen Osten wächst. Im Brennpunkt stehen dabei Libanon und die radikal-islamische Hisbollah. Die von Iran gestützte Miliz und Israel liefern sich seit Beginn des Gaza-Kriegs Kämpfe im Grenzgebiet der beiden Länder. Nach dem Raketenangriff auf ein Dorf in den von Israel kontrollierten Golanhöhen dreht sich die Eskalationsspirale weiter.
Das Warten auf Vergeltung: Israels Regierung bereitet sich auf einen Vergeltungsschlag gegen die Hisbollah vor. Das Sicherheitskabinett hat Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant ermächtigt, «über die Art und Weise und den Zeitpunkt des Vorgehens gegen die Terrororganisation Hisbollah zu entscheiden.» Washington bemüht sich, hinter den Kulissen für eine Beruhigung zu sorgen. Der Balanceakt ist nun, den Vergeltungsschlag unter der Schwelle eines echten, grossen Kriegs zu belassen.
Die neue Normalität: Im Grenzgebiet sind Zivilistinnen und Zivilisten den Kämpfen bereits ausgesetzt. Im schlimmsten Fall müssen sich noch weit mehr Menschen in Südlibanon darauf einstellen, dass ihre Dörfer und Städte zum Kriegsschauplatz werden könnten. Dies sei jedoch seit Beginn des Gaza-Kriegs eine «sehr reelle Gefahr», berichtet SRF-Korrespondent Thomas Gutersohn. Noch im Oktober 2023 sei es zu Panikkäufen gekommen, und wer konnte, habe das Land verlassen. «Mittlerweile hat sich das aber normalisiert. Man kann nicht monatelang in ständiger Angst vor einem Krieg leben. Irgendwann wird auch diese Angst zur Normalität.»
Gutersohn war erst kürzlich auf Reportagereise im Süden Libanons, nur etwa 20 Kilometer von der Grenze zu Israel entfernt, die zur Kampflinie geworden ist. «Dort gingen die Menschen am Strand baden und haben die Sonne genossen – obwohl die Bomben und Raketen der israelischen Armee gut hör- und sichtbar waren.»
Hoffen auf Entspannung: Es gibt derzeit Anzeichen, dass weder Israel noch die Hisbollah daran interessiert sind, ihre seit fast zehn Monaten andauernden Gefechte in einen veritablen Krieg zu verwandeln. «Im Libanon geht man sehr stark davon aus, dass Israel weiterhin gezielte Angriffe gegen Hisbollah-Kämpfer und ihre Einrichtungen fliegen wird», schätzt Gutersohn. Für Israel würde eine weitere Eskalation einen Zwei-Fronten-Krieg bedeuten: im Norden mit der Hisbollah und im Süden mit der Hamas im Gazastreifen.
Libanon und Israel befinden sich eigentlich andauernd im Kriegszustand, einmal akuter und einmal weniger.
Hisbollah als Schutzmacht: Mit ihren Angriffen auf Israel gefährdet die Hisbollah indirekt die Zivilbevölkerung in Südlibanon. Die Menschen können jederzeit zwischen die Fronten geraten, wenn Israel die Schiitenmiliz ins Visier nimmt. Seit Beginn des Gaza-Kriegs kamen rund 100 Libanesinnen und Libanesen bei den israelischen Angriffen ums Leben. «Trotzdem wird sie nach wie vor als einzige Schutzmacht gesehen», sagt Gutersohn. Zumal die libanesische Armee quasi inexistent sei.
Für die Hisbollah ist der Kampf gegen Israel die eigene Legimitation. Der Sinn ihrer Provokationen werde aber durchaus hinterfragt, schliesst Gutersohn. Denn für viele Menschen in Libanon sei der Krieg in Gaza nicht «ihr» Krieg. «Die Hisbollah muss es tunlichst vermeiden, diesen Konflikt vollends eskalieren zu lassen. Denn damit droht sie den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren.»