Die israelischen Vorstösse in Rafah im Gazastreifen dauern an. Dies hat zu verstärktem Druck aus den USA auf Israel geführt, sich zurückzuhalten. US-Präsident Joe Biden drohte damit, die Waffenlieferungen einzuschränken. Die Ankündigung sorgt nicht nur in Israel für scharfe Kritik. Auch Ex-Präsident Donald Trump wirft Biden vor, er lasse Israel «völlig im Stich». Was die aktuelle Situation mit den Wahlen in den USA zu tun hat, erklärt Politikwissenschaftler Thomas Jäger.
SRF News: US-Präsident Joe Biden droht Israel, die Waffenlieferungen einzuschränken. Will er damit auch innenpolitisch etwas erreichen?
Thomas Jäger: Ja, das ist ein wesentlicher Grund, warum er so vorgeht. Biden hat schon im Oktober betont, dass man nicht den gleichen Fehler wie bei 9/11 machen sollte. Das Ziel müsse gemächlicher erreicht und die Zivilbevölkerung geschützt werden. Das ist auch eine Reaktion auf die sich verändernde öffentliche Meinung.
In der amerikanischen Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren eine Abnahme der Sympathie für Israel und eine Zunahme der Unterstützung für die palästinensische Sache abgezeichnet.
Dies äussert sich in zunehmenden Protesten an amerikanischen Universitäten sowie in internem Widerstand gegen Bidens Politik, sogar aus seiner eigenen Partei im Repräsentantenhaus. Ein deutliches Zeichen gegen seine Israel-Politik war auch die Tatsache, dass er bei mehreren Vorwahlen etwa 20 Prozent der Stimmen nicht bekommen hat. Das versucht er jetzt einzufangen.
Israel und die USA sind traditionell eng befreundet. In den US-Medien wird Bidens offene Kritik daher als Wendepunkt bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung?
Das kann man sagen. Biden will diese Beziehung auch nicht aufgeben. Er betont auch, dass die USA weiterhin Defensivwaffen liefern und den Iron Dome unterstützen werden, um Israels Sicherheit zu gewährleisten. Dennoch hat sich in der amerikanischen Gesellschaft in den letzten Jahren eine Abnahme der Sympathie für Israel und eine Zunahme der Unterstützung für die palästinensische Sache abgezeichnet. Dies ist teilweise auf einen zunehmenden kolonialismuskritischen Diskurs zurückzuführen.
Donald Trump sagt, Biden lasse Israel im Stich. Welche Strategie verfolgt Trump?
Trump ist in einer komfortablen Situation: Er braucht immer nur diejenigen Wählergruppen ansprechen, denen Biden gerade auf die Füsse tritt. Zunächst hat er das Ziel verfolgt, dass Biden als derjenige dasteht, der diesen Krieg unterstützt. Jetzt wechselt er auf einmal die Position und sagt, Biden sei derjenige, der die Hamas unterstütze. Das garniert er mit dem Hinweis, unter seiner Führung gäbe es diesen Krieg nicht.
Welche Wählerinnen und Wähler lassen sich mit diesem Thema mobilisieren?
Insbesondere die arabischstämmigen Amerikaner und die linke amerikanische Bevölkerung. Sie sind durch den kolonialismuskritischen Diskurs sensibilisiert. Die Linken machen einen erheblichen Teil der Demokratischen Partei aus, möglicherweise ein Fünftel.
Wenn der Gazakrieg in der öffentlichen Meinung dominant bleibt, hat Biden ein ernstes Problem.
Besonders in Staaten wie Michigan, einem umkämpften Bundesstaat, könnten diese Gruppierungen am Ende ausschlaggebend sein. Auf sie muss Biden erheblich Rücksicht nehmen. Ohne sie kann er die Wahl nicht gewinnen.
Die US-Wahlen sind in einem guten halben Jahr. Wie entscheidend wird der weitere Verlauf im Gazakrieg sein?
Der Gazakrieg spielt in der amerikanischen Öffentlichkeit eine geringe Rolle. Die wichtigen Themen in den USA sind Inflation und Einwanderung. Und so kommt es für Joe Biden darauf an, wie grosse Aufmerksamkeit dieser Krieg im Oktober und November erhalten wird. Wenn der Krieg in der öffentlichen Meinung dominant bleibt, dann hat Biden ein ernstes Problem.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.