Vor genau einem Jahr hat Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet. Der deutsche Schriftsteller Christoph Brumme blieb trotz Krieg in der ostukrainischen Stadt Poltawa, wo er seit 2016 lebt. Im Gespräch schildert er, wie er die 365 Tage im Kriegszustand erlebt hat.
SRF News: Wie geht es Ihnen aktuell in Poltawa?
Christoph Brumme: Gerade eben ist der Luftalarm wieder losgegangen. Aber ich gehe nicht mehr in den Bunker.
Wie viel vom Krieg bekommen Sie mit?
Er ist immer da. Unsere Stadt ist rund 120 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt – für eine Rakete ist das eine Minute Flugzeit. Auch treffen wir ständig Freunde und Bekannte, die bei den Kämpfen verletzt wurden. Alle hier bangen um die, die an der Front kämpfen.
Wie haben Sie den ersten Kriegstag vor einem Jahr in Erinnerung?
Ich hatte sofort Bauchschmerzen, war irritiert. Und das, obwohl ich den Angriff eigentlich erwartet hatte. All diese verängstigten Menschen, die Schlangen vor den Geschäften.
Diese Angst vor den Russen, von denen man wusste, dass sie Konzentrationslager errichten sowie Menschen foltern und wahllos töten – es war furchtbar.
Die Angst vor den Russen, von denen man wusste, dass sie Konzentrationslager errichten sowie Menschen foltern und wahllos töten – es war furchtbar. Das Schlimmste war für mich, dass sich damals auch mein Kind noch in Poltawa befand.
Der Krieg hat das Leben der Menschen auf den Kopf gestellt – wie dramatisch war dieser Einschnitt?
Eine Freundin hat es so beschrieben: Es komme ihr vor, als ob die Zeit vor der russischen Invasion bloss ein Traum gewesen wäre. Die jetzige Gleichzeitigkeit von Krieg und Normalität ist sehr schwer zu verstehen. Es herrscht Krieg, doch in der Stadt haben die Restaurants, Banken und Geschäfte geöffnet, der Verkehr rollt.
Man kann nicht 24 Stunden am Tag an den Krieg denken – das hält man psychisch nicht aus.
Die Menschen versuchen, die Normalität zu bewahren, denn man kann nicht 24 Stunden am Tag an den Krieg denken. Das hält man psychisch nicht aus. Deshalb versucht man, sich kleine Freiheiten zu erhalten. Man lacht auch mal über Absurdes – man versucht wohl, die Furcht wegzulachen.
Welche ihrer Befürchtungen von vor einem Jahr haben sich bewahrheitet?
In den Jahren zuvor habe ich stets russisches Propagandafernsehen geschaut und analysiert – dort wurden die Kriegspläne ja öffentlich immer wieder ausführlich dargestellt. Stets wurde gesagt, dass in den ersten zwei bis drei Tagen alle Brücken über den Dnipro sowie die wichtigsten Infrastruktur-Objekte zerbombt würden. Danach kommen die russischen Spezialkräfte – sprich, die Foltertruppen. Damit wollte man den Ukrainern natürlich auch Angst machen.
Wir alle hatten die Stärke der russischen Armee überschätzt – und zugleich die massive Korruption in ihren Reihen sowie ihre Lügen- und Diebstahlkultur unterschätzt.
Ich befürchtete also, dass sie die Brücken über den Dnipro zerstören würden und wir dann die Ostukraine nicht mehr in Richtung Westen verlassen können. Es zeigte sich: Wir alle hatten die Stärke der russischen Armee stark überschätzt. Und ich unterschätzte die massive Korruption in der russischen Armee, deren Lügen- und Diebstahlkultur. Zugleich war es schwierig, die Stärke der ukrainischen Armee einzuschätzen. Befürchtet hatten wir auch einen Ausfall des Internets und den Ausbruch von Panik.
Wie gestaltet sich ihr Alltag jetzt im Krieg?
Am Vormittag schreibe ich Reportagen und Berichte. Am Nachmittag gehe ich in die Stadt, treffe Menschen, führe Interviews. Gegen Abend gehe ich wieder nach Hause und arbeite noch ein paar Stunden weiter. Es ist immer der gleiche Tagesablauf.
Lesen Sie Berichte von Christoph Brumme:
Wie schaffen Sie es, sich über eine so lange Zeit nur mit dem Krieg zu befassen?
Natürlich würde ich lieber literarische Bücher schreiben – ich habe ein neues Buch begonnen und hoffe damit auf eine Oase, damit ich mehr Kraft für die Kriegsberichte habe.
Der Krieg zehrt an den Nerven.
Denn der Krieg zehrt an den Nerven: Ich muss mir ständig grausige Videos, Militäranalysen und furchtbar hässliche Propagandaveranstaltungen angucken.
Was erwarten Sie für die nächste Zukunft?
In der optimistischsten Variante wird es in diesem Jahr den Ukrainern gelingen, die Russen zu schlagen, die Krim von Russland abzuschneiden. In diesem Fall wäre zu hoffen, dass Putin von der russischen Elite abgesetzt würde. Ich persönlich bleibe hier in Poltawa, solange ich kann. Freunde sagen mir immer wieder, wie wichtig und gut es sei, dass ich ins Ausland berichte, was hier vorgeht. Das gebe ihnen Mut und motiviere sie. Ich habe hier also eine kleine Aufgabe – und die versuche ich zu erfüllen.
Das Gespräch führte Silvia Staub.