In den Tagen vor dem russischen Angriffskrieg spitzte sich die Lage merklich zu. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew fragten sich die Menschen gegenseitig, ob man einen Koffer gepackt habe, um im Notfall schnell abreisen zu können. Doch eine Mehrheit konnte oder wollte der Gefahr nicht ins Auge blicken. Zu apokalyptisch schien das Bild eines russischen Grossangriffs auf die Ukraine.
Düstere Ahnungen
Dass sich die Situation in eine denkbar schlechte Richtung entwickeln würde, schien spätestens seit dem 21. Februar klar. An diesem Tag erkannte der russische Präsident Wladimir Putin die von Russland seit 2014 kontrollierten Gebiete der Ostukraine als unabhängig an.
In den acht Jahren zuvor lieferte Russland nachweislich Waffen und entsandte Militärs in diese Regionen. Doch die Unabhängigkeit dieser Gebiete anerkannte Russland formell erst im Februar 2022.
Eine schlaflose Nacht
Am Abend des 23. Februars wuchs meine düstere Vorahnung. An Schlaf war die nächsten Stunden nicht zu denken. Mein Bauchgefühl sollte mich nicht getäuscht haben. Die Rede von Wladimir Putin um fünf Uhr morgens Kiewer Zeit, in welcher er erklärte, dass er zum «Schutze des Donbass» eine «Spezialoperation» starten werde, hatte ich in Kiew in meinem Hotelzimmer mitverfolgt.
Während ich bereits mit Helm und Schutzweste vor dem Hotel auf meinen Kameramann wartete, herrschte unter vielen Hotelgästen – die meisten davon ausländische Korrespondentinnen und Korrespondenten – noch Unsicherheit darüber, wie man nun auf diese Situation reagieren sollte. Für mich war zu diesem Zeitpunkt klar, dass ich mich mitten im Zentrum unweit des Regierungsviertels in einem Stadtteil aufhielt, der von russischen Raketen ins Visier genommen werden könnte. So fuhr ich mit meinem Kameramann aus Kiew in eine Kleinstadt ohne strategisch wichtige Angriffsziele.
Die Strasse der Zerstörung
Die Ortschaften bei der Ausfahrt aus Kiew sollten wenige Wochen später traurige Berühmtheit erlangen. Ich fuhr durch Irpin, Butscha und Borodianka. Über Brücken, die später von der ukrainischen Armee gesprengt werden sollten, um den Vormarsch der russischen Armee auf die Hauptstadt aufzuhalten. Eine Kapelle am Wegesrand, die ich aus dem Auto fotografierte, wurde später von der russischen Armee zerstört.
Hätten die Menschen in diesen Vorstädten von Kiew realisiert, in welcher Lebensgefahr sie schwebten, wären wohl mehr von ihnen geflohen. Allein in Butscha wurden nach der Besatzung durch die russische Armee 270 Tote aus Massengräbern geborgen. Die Menschen, die nicht vor dem Einmarsch der russischen Armee geflohen sind, wurden Augenzeugen von Gräueltaten. Die Tage unter russischer Besatzung werden sie ihr Leben lang begleiten. Auch wenn dieser Krieg dereinst ein Ende finden wird, so wird die Ukraine noch Jahrzehnte mit den Folgen zu kämpfen haben.
Flaggen aus Schmerz
Unterwegs durch die Ukraine mit dem Auto kam ich in den vergangenen Monaten auch in kleineren Ortschaften immer wieder an Friedhöfen mit wehenden gelb-blauen Flaggen vorbei. Alle im Krieg Gefallenen bekommen neben ihr Grab einen kleinen Fahnenmasten aufgestellt.
Die Flaggen sind auch aus der Distanz gut zu erkennen und sind eine ständige Erinnerung daran, dass dieser Krieg alle Menschen in der Ukraine betrifft. Oft erlebte ich als Journalistin in den vergangenen Monaten Situationen, in denen ich Menschen, die ihre engsten Angehörigen im Krieg verloren hatten, mit meinem offenen Ohr ein wenig Trost spenden konnte.
Rückkehr der Hoffnung
Mit dem Vormarsch der ukrainischen Armee im Osten des Landes – in Isjum im September und im Süden der Ukraine in Cherson im November – wuchs meine Zuversicht, dass ein Wendepunkt in diesem Krieg erreicht werden könnte.
Doch dass der Krieg noch in diesem Jahr enden könnte, wie dies der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski öffentlich sagte, scheint mir trotz aller Fortschritte an der Front zu optimistisch. Ein Freund in der Ukraine sagte mir kurz vor dem Jahrestag, dass der 24. Februar 2022 nicht aufhören werde, solange Russland Krieg gegen die Ukraine führt.