Welcher Weg könnte dem Nahen Osten endlich Frieden bringen? Der Historiker Michael Wolffsohn schlägt in seinem Buch «Zum Weltfrieden» eine Einstaatenlösung vor – ein föderales System, welches Israelis und Palästinensern ermöglichen würde, in einem Staatenbund gleichberechtigt neben- und miteinander zu leben. Er hat gute Argumente für seine Idee.
SRF News: Was wären die Vorteile einer Einstaatenlösung gegenüber einer inzwischen völlig blockierten Zweistaatenlösung?
Michael Wolffsohn: Mein Föderationsgedanke für Nahost wäre eine Mischung aus Bundesstaat und Staatenbund. Das Ziel: Beide Bevölkerungsgruppen – das jüdisch-israelische Kollektiv und das arabisch-palästinensische – müssen ihren Alltag selbstbestimmt lenken können. Dazu würde jede Bevölkerungsgruppe ihre eigene Vertretungskörperschaft wählen: die jüdischen Israelis im Kernland und die über 600'000 jüdischen Siedler im Westjordanland wählen eine Kammer mit Volksvertreterinnen und -vertretern, ebenso die palästinensischen Araber in Israel.
Ein Staatenbund aus den ‹Kantonen› Israel, Gaza, Westjordanland und Jordanien – ‹Palästina›.
Die nächste Stufe wäre dann ein nationales Parlament mit allgemeinem Wahlrecht. Das Westjordanland und der Gazastreifen würden je eigene «Kantone» eines gemeinsamen Staatenbunds mit Israel – und Jordanien. Dabei ist die Einbindung des Nachbarn entscheidend: 70 Prozent der dort lebenden Menschen sind Palästinenser. Der Staatenbund Palästina würde also aus den «Kantonen» Israel, Gaza, Westjordanland und Jordanien bestehen.
Eine rein territoriale «Kantons»-Lösung würde Ihrer Ansicht nach nicht funktionieren. Wieso nicht?
Denken Sie an die jüdischen Siedler im Westjordanland oder an die vielen Städte im israelischen Kernland, die sowohl von jüdischen wie von arabischen Israelis bewohnt werden. Man schaue nach Haifa, Lod oder Akko, wo es dieser Tage zu Gewalttaten kommt. Eine rein territoriale Lösung ist angesichts der herrschenden Voraussetzungen nicht möglich. Man muss den Menschen das Selbstbestimmungsrecht geben – nicht dem Territorium.
Kann das riesige Misstrauen zwischen Israelis und Palästinensern durch ein föderalistisches System denn überwunden werden?
Die aktuelle Realität führt seit Jahrzehnten zu Gewalt und Gegengewalt. Deshalb muss man einen neuen Ansatz finden, der erstens Selbstbestimmung ermöglicht und zweitens Gewalt verhindert.
Ein neuer Ansatz muss Selbstbestimmung ermöglichen und Gewalt verhindern.
Eine föderalistische Struktur, wie von mir vorgeschlagen, erscheint mir eine realistische Möglichkeit für eine gewaltfreie Zukunft. So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben, wenn man Gewalt verhindern will.
Die Internationale Gemeinschaft – und auch die Schweiz – setzt sich immer noch für eine Zweistaatenlösung ein. Wie realitätsnah sind Ihre Vorschläge angesichts dieser Tatsache?
Hier und heute sind meine Vorschläge nicht realistisch. Doch realistisch ist die heutige Realität, und diese ist blutig – seit Jahrzehnten. Insofern ist eine Zweistaatenlösung, wie sie von der sogenannten Internationalen Gemeinschaft favorisiert wird, vollkommen unrealistisch.
Wenn man so weitermacht wie bisher, geht das Blutvergiessen weiter.
Deshalb muss man überlegen, ob es vielleicht am falschen Konzept liegt, wenn man immer wieder den gleichen Fehler macht. Wenn man mit der vorherrschenden Realität so wie bisher weitermacht, sorgt man einfach dafür, dass das Blutvergiessen weitergeht.
Das Gespräch führte Lillybelle Eisele.