Billiger Strom im Überfluss dank Atomkraft – ein Versprechen, das für die Franzosen so sicher ist wie das Amen in der Kirche. Aber diese Sicherheit droht nun zu kippen: 56 Reaktoren an 18 Standorten sind über das Land verteilt und versorgen Frankreich normalerweise mit so viel Strom, dass im Sommer noch genügend für europäische Nachbarn übrig bleibt.
Aber seit Monaten stehen 18 Reaktoren aufgrund von langfristig angekündigten Wartungsarbeiten still. Zusätzliche zwölf Reaktoren wurden in den vergangenen Wochen abgeschaltet: Sie wiesen Korrosionsschäden auf, die erst repariert werden müssen.
Damit wird der Energiebedarf des Landes bei Weitem nicht abgedeckt. Die Sicherheitsbehörde der Atomkraftwerke ASN hat dem Betreiber EDF eine Ausnahmegenehmigung erteilt, Reaktoren in Betrieb zu lassen, die momentan durch die andauernde Hitze eigentlich abgeschaltet werden müssten, weil der Ausstoss ihres Wasserkreislaufs die anliegenden Flüsse zu stark erhitzt.
Wahrscheinlich wird es geplante Stromunterbrechungen geben, um Energie zu sparen.
Die Folge: Frankreich muss zum ersten Mal in seiner Geschichte bereits im Sommer gut 20 Prozent seines Stroms importieren. Für den kommenden Winter sind das laut Atomspezialist Yves Marignac keine guten Vorzeichen. «Das ist eine absolute Premiere, dass so viele AKWs gleichzeitig nicht funktionieren. Dazu kommt dann noch die Energiekrise durch den Krieg in der Ukraine.»
Es sei klar, dass Frankreich im Winter eine ziemlich grosse Energiekrise erleben werde. «Ich denke, ein Totalausfall kann vermieden werden, aber wahrscheinlich wird es geplante Stromunterbrechungen geben, um Energie zu sparen», so Marignac.
Bereits im Februar hatte Betreiber EDF vorgewarnt, dass durch Wartungsarbeiten 2022 verringerte Stromkapazitäten zu erwarten seien. Aber durch die alternden Installationen des vierzigjährigen AKW-Parks Frankreichs kommen ständig neue Probleme dazu.
Eins davon ist der EPR in Flamanville, ein neuer Reaktor, der bereits 2012 hätte in Betrieb gehen sollen. Doch das einstige Prestigeprojekt macht längst nur noch durch Bauschäden und Rekordkosten von sich reden. Erst letzte Woche wurden Fehler am Steuerungssystem entdeckt, die erneut Reparaturen nötig machen. Trotzdem will EDF fest an eine mögliche Inbetriebnahme 2023 glauben.
Atomspezialist Marignac ist skeptisch: «Bevor der EPR ans Netz gehen kann, müssen noch viele Tests durchgeführt werden. Problematisch ist, dass viele der bereits installierten Bauteile durch die ständigen Verzögerungen bereits gealtert sind – obwohl sie noch nicht benutzt wurden. Vielleicht wird der EPR eines Tages angeschlossen, aber wettbewerbsfähig wird er nie. Es ist wirtschaftlich gesehen eine Katastrophe.»