Das verheerende Erdbeben in der Türkei löst auch in Griechenland grosse Solidarität aus – obschon dort die Stimmung gegenüber der Türkei zuletzt gereizt war. Zwischen den beiden Ländern herrscht ein jahrzehntelanger Streit um Hoheitsgebiete in den Grenzgewässern, kürzlich drohte der türkische Präsident Erdogan mit einer Invasion griechischer Inseln. Trotzdem schickte Griechenland nach dem Erdbeben Rettungsteams und Hilfsgüter. Die freie Journalistin Rodothea Seralidou kennt die Hintergründe.
SRF News: Woher kommt die grosse griechische Hilfsbereitschaft?
Rodothea Seralidou: Es ist nicht das erste Mal, dass eine grosse Naturkatastrophe die zwei Länder näherbringt. Das haben wir schon 1999 erlebt, als bei einem Erdbeben die Türkei Zehntausende Menschen starben. Auch damals waren die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland extrem angespannt; zwei Jahre vorher war es fast zum Krieg gekommen. Und trotzdem bot Griechenland sofort seine Hilfe an. Athen schickte Rettungsteams in die Türkei und half bei der Bergung von verschütteten Menschen.
Man hilft sich in so schwierigen Zeiten gegenseitig und lässt die politischen Differenzen aussen vor.
Einen Monat später traf dann Griechenland ein starkes Erdbeben und da half die Türkei ihrerseits Griechenland. So ist der Begriff Erdbebendiplomatie entstanden. Sie beschreibt genau das, was gerade wieder der Fall ist: Dass man sich in so schwierigen Zeiten gegenseitig hilft und die politischen Differenzen aussen vor lässt.
Steckt hinter den Hilfeleistungen politisches Kalkül?
Sich als grosser Helfer zu profilieren gegenüber einem Land, das sonst als Bedrohung wahrgenommen wird, ist natürlich etwas, was dem griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis und seiner Regierung auch ein positives Image gibt. Denn die griechische Hilfe macht international Schlagzeilen.
Dass Griechenland sofort Rettungsteams und Spezialistinnen ins Erdbebengebiet geschickt hat, dahinter steckt vielleicht nicht direkt politisches Kalkül, aber es ist etwas, das der griechischen Regierung sicherlich hilft. Denn Griechenland signalisiert damit der internationalen Gemeinschaft, dass man hilft und man gleichzeitig keine Spannungen und Krieg will.
Wie wird diese Hilfe für die Türkei in Griechenland politisch aufgefasst, nach all den Vorfällen in der jüngsten Vergangenheit?
Tatsächlich stehen die meisten politischen Parteien hinter der Hilfe für das türkische Volk. Auch sie zeigen sich erschüttert vom Ausmass der Katastrophe. Die einzigen, die diese Gefühle und die Unterstützung nicht teilen, sind die extremen Rechten im griechischen Parlament – die Partei Elliniki Lysi, zu Deutsch «griechische Lösung». Deren Parteichef ist der Meinung, dass man einem verfeindeten Nachbarn keine Hilfe schicken sollte. Er steht dabei politisch aber ziemlich alleine da.
Könnte die Katastrophe zu einer Entspannung des griechisch-türkischen Verhältnisses führen?
Nach den Erdbeben von 1999 in beiden Ländern gab es tatsächlich eine Zeit, in der Griechenland und die Türkei leisere Töne anschlugen, einige Jahre lang kehrte Ruhe ein. Ob das auch diesmal der Fall sein wird, kann niemand sagen. Beide Länder stehen vor Parlamentswahlen. Da wird die Karte des externen Feindes gerne ausgespielt.
Es ist möglich, dass es auch diesmal eine Zeit lang ruhig bleibt.
Es ist aber durchaus möglich, dass es auch diesmal eine Zeit lang ruhig bleibt. Fragt sich nur, wie lange, denn die Streitpunkte zwischen Griechenland und der Türkei bleiben ja nach wie vor bestehen.
Das Gespräch führte Rafael Günther.