Beim Angriff der Hamas auf Israel sind laut israelischen Armeeangaben 199 Personen von der Terrororganisation verschleppt worden. In der Nacht auf Dienstag hat die Hamas erstmals ein Video mit einem Appell von Geiseln veröffentlicht. Israel werde «alle geheimdienstlichen und operativen Mittel» zu deren Rettung einsetzen, erklärte die Regierung. Was das heissen könnte, erklärt der deutsche Verhandlungsexperte Matthias Schranner.
SRF News: Sie sprechen im aktuellen Fall nicht von Geiselnahme, sondern von Verschleppung und Entführung. Was ist der Unterschied?
Matthias Schranner: Das ist aus verhandlungstechnischer Sicht ein grosser Unterschied. Bei einer Geiselnahme weiss man, wo die Täter und wo die Opfer sind, etwa bei einem Banküberfall. Bei einer Entführung weiss man von alledem nichts.
Gibt es vergleichbare Fälle mit einer derart hohen Zahl von Entführten?
Nein. Das ist in dieser Grössenordnung erstmalig. Derart orchestriert und konsequent ausgeführt, stellt es alle Sicherheitskräfte vor ein komplett neues Problem. Selbst mit der Entführung hunderter Schulkinder durch die nigerianische Terrormiliz Boko Haram ist es nicht vergleichbar. Der jetzige Angriff wurde sehr viel länger und professioneller vorbereitet. Die Geiseln werden offenbar in den riesigen Tunnelsystemen versteckt.
Viele Militärexperten bezweifeln, dass die Geiseln bei einem Eingreifen im Gazastreifen überleben würden.
Was bezweckt die Hamas mit den Entführungen?
Es gibt wohl zwei Möglichkeiten: Entweder sollen die Geiseln gar nicht freiverhandelt werden, sondern nur als Schutzschilder gegen mögliche Gegenangriffe Israels dienen. Oder aber sie werden als Verhandlungspfand benutzt, um etwa eine bessere Wasserversorgung oder die Öffnung von Grenzübergängen zu erzwingen.
Welche Möglichkeiten gibt es, um die Verschleppten freizubekommen?
Man muss mit der Hamas sprechen, ob man will oder nicht. Das ist die einzige Möglichkeit, um an Informationen zu kommen. Sehr viele Militärexperten bezweifeln, dass die Geiseln bei einem Eingreifen im Gazastreifen überleben würden. Man muss also verhandeln. Etwa über die Schweiz, die als einziges westliches Land mit einer «special relationship» einen diplomatischen Draht zur Terrororganisation Hamas hat. Ich bin mir sicher, dass im Hintergrund schon Gespräche laufen. Sie begannen bereits am Samstag. Die Schweiz ist direkt in Kontakt mit der Hamas.
Wenn das zutrifft – wer spricht nun mit wem über was genau?
Einen grossen Vorteil gibt es: Man kennt die Hamas, ihre Hierarchie und die richtigen Ansprechpartner und Entscheidungsträger. Von diesen geheimen Gesprächen darf nichts an die Öffentlichkeit gelangen, damit sie nicht bewertet werden können, was den Spielraum für mögliche Lösungen einschränken würde.
Welche anderen wichtigen Grundsätze müssen bei Gesprächen mit den Entführern eingehalten werden?
Man sollte sehr schnell verhandeln, denn die Zeit läuft definitiv für Israel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man alle Verschleppten freibekommt. Man muss aber jetzt versuchen, zumindest Kinder, Frauen sowie ältere und kranke Menschen aus der Geiselhaft zu bekommen.
Ich bin mir sicher, dass im Hintergrund schon Gespräche laufen. Die Schweiz ist direkt in Kontakt mit der Hamas.
Wie stellt man eine gewisse Vertrauensbasis mit den Entführern her?
Es braucht kein Vertrauen, sondern Respekt vor der Haltung der Gegenseite. Man muss sie nicht mögen oder für gut befinden, aber man muss die Leute mit Respekt behandeln, auch wenn das emotional schwer nachvollziehbar ist. Die einzige Grundlage lautet also: Man muss sich auf den anderen soweit verlassen können, dass das Besprochene auch umgesetzt wird. Mehr braucht man nicht.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.