Drei Schüsse durch ein Garagentor. Die Kugeln treffen Anfang Januar ein elfjähriges Mädchen tödlich. Der Fall hat die belgische Öffentlichkeit aufgerüttelt. Ein unbeteiligtes Kind als Opfer im Antwerpener Drogenkrieg. Das ist auch für die belgische Hafenstadt eine neue Dimension.
Denn Sprengstoffanschläge oder Schüsse auf Wohnhäuser sind inzwischen in Antwerpen zur Normalität geworden. Die Vorfälle haben meist einen Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Es handelt sich um Abrechnungen oder Drohungen unter Drogenhändlern.
Belgien – und vor allem die Hafenstadt Antwerpen – ist inzwischen zu einem der wichtigsten Umschlagplätze für Kokain in Europa geworden. Jedes Jahr wird im Hafen von Antwerpen mehr Kokain beschlagnahmt.
Besonders stark von der Drogenkriminalität betroffen ist der Stadtteil Borgerhout. Wir fragen nach in einem Quartierrestaurant, wie die Menschen die Situation erleben. «Fast jede Woche passiert irgendwo irgendetwas», sagt ein älterer Mann, der mit zwei Freunden gerade zu einer neuen Runde Billiardkarambol ansetzt.
«Das ist sehr ärgerlich», sagt er. Denn er lebe eigentlich gerne in Borgerhout, doch die Drogengewalt bringe das Quartier in Verruf. Aber letztlich müsse man wohl damit leben, sagt er schulterzuckend. «Es ist ein Resultat des Hafens von Antwerpen.»
Viele Gäste machen sich Sorgen wegen der immer sichtbareren Gewalt, nicht nur in Borgerhout, sondern in der ganzen Stadt. Sie fürchten, dass die Situation noch weiter eskalieren könnte. Einige sagen auch, solange man nicht in den Drogenhandel involviert sei, habe man wohl auch nichts zu befürchten. An der Bar erzählt eine Frau, wie sie vor etwa einem halben Jahr vom Knall einer Explosion geweckt wurde. «Mein Mann und ich sind fast aus dem Bett gesprungen. Und wir dachten: Oh mein Gott, nun passiert es auch in unserer Nähe.»
Einige hundert Meter entfernt liegt das Rathaus von Bourgerhout. Die Bezirksbürgermeisterin Marij Preneel empfängt uns zum Interview. Es reiche nicht, wenn die Polizei einfach ihr Personal im Hafen aufstocke, so wie sie es versprochen hat, sagt Preneel. Es brauche auch eine stärkere Polizeipräsenz in den Quartieren. «Die Polizei konzentriert sich momentan auf Interventionen. Es braucht aber Polizisten, die auf die Strasse gehen, bevor etwas passiert», sagt die Bezirksbürgermeisterin.
Die Polizeistrategie Antwerpens wird aber nicht im Bezirksrathaus von Borgerhout festgelegt, sondern in jenem der Stadt Antwerpen. Bürgermeister Bart de Wever hat keine Zeit für ein Gespräch und die Polizei lässt ausrichten, dass es derzeit grundsätzlich keine Interviews zur Drogengewalt in Antwerpen gebe.
Antwerpen hat Rotterdam überholt
Eine Entspannung der Situation zeichnet sich zurzeit nicht ab. Im Jahr 2022 wurde im Hafen von Antwerpen mehr als doppelt so viel Kokain beschlagnahmt wie im benachbarten Hafen im niederländischen Rotterdam – dem grössten Europas. Belgien hat die Niederlande als grössten Kokainumschlagplatz des Kontinents abgelöst. Wohl auch deshalb, weil im Hafen von Rotterdam die Schiffscontainer inzwischen systematischer kontrolliert werden können, als das im Hafen von Antwerpen der Fall ist. Das dürfte Antwerpen für den Kokainschmuggel attraktiver machen.
Dass die Menge jedes Jahr grösser wird, dürfte aber auch darauf zurückzuführen sein, dass in Südamerika auch immer mehr Kokain für Europa produziert wird. Die Nachfrage ist gross. Schätzungen der amerikanischen Behörden ergeben, dass die Kokainproduktion in Kolumbien, Bolivien und Peru, den drei wichtigsten Anbauländern für Kokain, in der Tendenz ebenfalls zunimmt.
Die organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit dem Drogenhandel ist in Belgien inzwischen zu einem Problem geworden, das weit über Antwerpen hinausgeht. Auch in anderen Städten kommt es zu Gewalttaten.
Auch die belgische Politik bleibt nicht verschont. Justizminister Vincent Van Quickenborne musste bereits zweimal untertauchen. Es soll konkrete Entführungsdrohungen aus dem Drogenmilieu gegen ihn gegeben haben. «Wir sind in die Phase des Narco-Terrorismus eingetreten, in der die Unterwelt immer mehr Menschen aus der normalen Welt bedroht», sagt Van Quickenborne.
Die Methoden der Drogenbanden sind brutal. Hafenarbeiter werden nicht nur bestochen, sondern teilweise auch gefoltert, um das Kokain durch den Hafen zu schleusen. In den Handel mit der weissen Droge ist das organisierte Verbrechen in ganz Europa involviert. Die marokkanisch-stämmige «Mocro-Mafia» in Belgien und den Niederlanden, die albanische und die serbische Mafia oder die italienische ’Ndrangheta – sie teilen sich den Handel auf.
Das Geschäft ist höchst lukrativ. Ein Kilogramm Kokain, das im Einkauf in Südamerika 1000 Dollar kostet, soll in Europa für das 35-fache verkauft werden können.
Solche Preise machten den europäischen Markt für die Drogenkartelle besonders attraktiv, sagt der belgische Zolldirektor Kristian Vanderwaeren im Gespräch. «Es kommt so viel Kokain nach Europa, weil hier sehr viele Menschen Kokain konsumieren.» Der belgische Zoll habe zurzeit nicht die Mittel, um alle verdächtigen Container aus Südamerika auf Kokain zu untersuchen. Das wolle man aber ändern, sagt Vaderwaeren. Mit neuen Scannern und mehr Personal, sagt der Zolldirektor. Letztlich könnten die belgischen Behörden das Problem aber nicht alleine lösen.
«Das Kokainproblem ist ein riesiges Problem. Und dieses riesige Problem ist ein europäisches Problem.» Deswegen brauche es im Kampf gegen den Kokainschmuggel eine internationale Zusammenarbeit. Wenn man den Kokainschmuggel nur an einzelnen Häfen bekämpfe, verschiebe er sich einfach an andere Orte. «Wir brauchen die Unterstützung Europas, um dieses Problem lösen zu können», fordert Vaderwaeren.
Auch die EU-Kommission reagiert
Dies scheint man auch in der EU-Kommission erkannt zu haben. Anfang Februar besuchte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson zusammen mit der belgischen Innenministerin Annelies Verlinden den Hafen von Antwerpen. «Die Bedrohung der Gesellschaft durch das organisierte Verbrechen ist heute genauso gross wie die terroristische Bedrohung», sagte sie.
Das organisierte Verbrechen müsse daher mit dem gleichen Engagement und der gleichen Entschlossenheit bekämpft werden wie der Terrorismus. Unter anderem wolle man dazu die Zusammenarbeit mit den südamerikanischen Herkunftsländern des Kokains verbessern.
Die belgische Regierung will unter anderem mit einer Sonderbeauftragten den Kampf gegen Drogenkriminalität künftig besser koordinieren. Mitte Februar hat diese ihre Arbeit aufgenommen. Ausserdem sollen mehr und bessere Scanner angeschafft werden, um Kokain in den ankommenden Schiffscontainern zu entdecken. Das Ziel ist es, bis 2024 jeden sogenannten Risikocontainer kontrollieren zu können.
Die Herausforderung ist enorm. Laut Schätzungen waren die 110 Tonnen Kokain, die die Behörden im vergangenen Jahr im Hafen von Antwerpen beschlagnahmten, nur 10 bis 20 Prozent der Menge, die tatsächlich ankam. Mit dem Rest bedient die Drogenmafia die Nachfrage der Kokainkonsumentinnen und Kokainkonsumenten in ganz Europa.