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Erwartungen an Europa auf der Euro-Velo-Route Verdun-Maastricht
Aus International vom 01.06.2024. Bild: SRF Charles Liebherr
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Europawahl 2024 «Ich werde für Europa wählen – es braucht mehr Offenheit!»

Was Europa ist, lässt sich entlang der EuroVelo-Route 19 von Verdun nach Maastricht gut erfahren. Für einige Menschen ist die EU immer noch ein Friedensprojekt. Andere bleiben aus Überzeugen euroskeptisch. Begegnungen vor den Europawahlen entlang der Maas.

In Maastricht steht die wahrscheinlich schönste Buchhandlung Europas. Sie hat sich in einer stillgelegten Dominikaner-Kirche eingerichtet. Im Grunde habe sie aber eigentlich immer noch ihre ursprüngliche Funktion. Sie sei ein Begegnungszentrum, meint der Direktor der «Boekhandel Dominicanen». Hier treffen Menschen, die einkaufen, auf Ideen und Geschichten auf Papier.

Moderne Bibliothek in einer Kirche mit hohen Fenstern und Besuchern.
Legende: Die Kirche war auch schon Veloparking, Boxlokal, Lagerhalle, Getreidelager. Heute stapeln sich hier Bücher. (Bild: 06.02.19) IMAGO / Dreamstime

«All unsere Bücher hier sind das Produkt von Europa, von europäischer Zusammenarbeit. Wir Menschen entwickeln Ideen nicht allein, sondern weil wir auf Reisen andere Menschen treffen», sagt Ton Harmes.

Die moderne EU entstand vor 32 Jahren

Für den Niederländer Harmes ist Europa, neben Reisen und viel kulturellem Erbe, vor allem die Summe von vielen alltäglich gewordenen Erleichterungen. Dabei denkt er in erster Linie an seine Kasse. «Es geht nicht mehr ohne Europa. Denken Sie an die Zeit vor dem Euro: Wir mussten alle Währungen in der Kasse haben; die D-Mark, niederländische Gulden, Franc, Pfund …»

Der Maastricht-Vertrag von 1992

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Legende: Der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher (links) und Finanzminister Theo Waigel (rechts) unterzeichnen am 7. Februar 1992 den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht (Niederlande). KEYSTONE/EPA/Str

Der Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 war nach den Römischen Verträgen von 1957 der bedeutendste Integrationsschritt der europäischen Einigung. Er überführte die Europäischen Gemeinschaften (EG) mit der Ergänzung einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (PJZS) in die neu gegründete Europäische Union (EU).

Hauptbestandteil war die Bildung der Wirtschafts- und Währungsunion. Bis heute gehören 20 der 27 EU-Staaten der Euro-Währungszone an. Die Ratifizierung von «Maastricht» wurde durch ­einen negativen Volksentscheid in Dänemark und eine Verfassungsklage in Deutschland verzögert. Der Maastricht-Vertrag wurde durch die Verträge von Amsterdam (1997), Nizza (2001) und zuletzt Lissabon (2007) revidiert.

Kein Zufall, dass Ton Harmes so schnell auf den Euro zu sprechen kommt. In Maastricht wurde 1992 die Europäische Union geschaffen. Wer heute von der EU spricht, meint jenes Europa, das in seinen Grundzügen von den EU-Staats- und Regierungschefinnen geschaffen wurde. Hier wurde auch die gemeinsame Währung Euro beschlossen.

Erst nach und nach werden wir uns bewusst, welche Bedeutung der Maastricht-Vertrag auf unser tägliches Leben hat.
Autor: Bart Stol Historiker

Damit bekam Europa ein Gesicht. Maastricht steht für den freien Personenverkehr, für die Unionsbürgerschaft und für ein enormes Fitnessprogramm, um den europäischen Binnenmarkt zu verbessern. Europa wurde für seine Bürgerinnen und Bürger greifbar und angreifbar.

Europa wählt

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Am 9. Juni wählen rund 400 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger ein neues EU-Parlament. Die Zusammensetzung der 720 Abgeordneten wird einen Hinweis darauf geben, welche Europapolitik sich die Wählenden in den nächsten fünf Jahren wünschen.

Hierfür stehe symbolisch der Name Maastricht, sagt der Historiker Bart Stol. «Erst nach und nach werden wir uns bewusst, welche Bedeutung der Maastricht-Vertrag auf unser tägliches Leben hat.» Immer noch.

Maastricht sei aber auch der Geburtsort der weitverbreiteten «Euroskepsis», meint Bart Stol, offizieller Archivar des Maastrichter Vertrags. «Mit dem Vertrag von Maastricht rückt Europa zusammen. Das weckt viel Skepsis gegenüber Europa.» In Maastricht wurde auch der Grundstein für den «Brexit» gelegt. Dieses Mehr an europäischer Zusammenarbeit wurde der konservativen britischen Regierung zu viel.

Eine Veloroute durch das historische Zentrum Europas

Solche Begegnungen mit Menschen, die ihre Sicht auf Europa erzählen, eröffnet die EuroVelo 19, die Maas-Veloroute, in grosser Zahl. Sie führt von der Mündung der Maas im Zentrum von Frankreich durch die Ardennen, durch die Wallonie und Flandern in Belgien und dann durch die Niederlande bis an den Ärmelkanal.

Jeden Sonntag sitzt Michael auf seinem Klappstuhl an der Maas. Er fischt aus Leidenschaft, fängt am liebsten Flussbarben – wirft sie normalerweise aber alle zurück ins Wasser. Michael ist ein Euroskeptiker. «Europa ist ein Chaos», meint er. Michael glaubt, eine Gegenbewegung in Europa zu erkennen. Endlich. Regierungen würden sich wieder stärker für ihre nationalen Interessen starkmachen.

«Überall nimmt der Nationalismus wieder zu. Weil viele europäische Regierungen sich in der Vergangenheit um alles und jeden kümmerten, ausser um das Wohl ihrer eigenen Bevölkerung.» Was Michael beobachtet, könnte sich bei den Europawahlen bestätigen. Europa-kritischen Parteien werden Gewinne vorausgesagt.

Eine Frau fährt Fahrrad auf einem Weg neben dem Canal de la Meuse.
Legende: Der Maas-Kanal ist Teil eines weitverzweigten Binnenschifffahrtsnetzes im Nordosten von Frankreich. SRF/Charles Liebherr

Die EU als Klimapionierin löst geteilte Reaktionen aus

Jacques, pensionierter Feuerwehrmann aus Paris, besucht seine Eltern in der Region. Er liebt die gewaltige Natur entlang des Flusses. Er findet, dass die EU in den letzten Jahren einen guten Job gemacht habe. Insbesondere beim Klimaschutz. Er findet auch, dass Europa noch stärker ein Block werden müssen, um zwischen den grossen Machtblöcken USA oder China nicht aufgerieben zu werden.

Fluss mit Feldern und Hügeln im Hintergrund.
Legende: Entlang des Kanals und des alten Flusslaufs der Maas liegen zahlreiche Naturschutzgebiete. SRF/Charles Liebherr

Aber er hält die EU zuweilen für etwas zu gutgläubig. Auch beim Klimaschutz. «Die anderen Grossmächte foutieren sich um den Umweltschutz. Wir in Europa glauben, es besser als alle anderen machen zu müssen. Ich bin nicht sicher, ob diese Rechnung dereinst aufgeht.»

Natürlich nehme ich an den Europawahlen teil. Ich wähle pro-europäisch. Es braucht mehr Offenheit.
Autor: Lydia Bienenzüchterin und Gastwirtin

Die Bienenzüchterin und Gastwirtin Lydia widerspricht. Sie offeriert in ihrer Taverne neben dem europäischen Biermuseum ein lokal gebrauchtes Bio-Bier. «Dieser Planet ist das Wichtigste, was die Menschheit hat. Nicht eine, alle Parteien, alle Menschen müssen sich für den Klimaschutz engagieren.»

Innenraum eines Cafés mit zwei Männern an einem Tisch, Retro-Werbeschilder an der Wand.
Legende: Zum Biermuseum gehört auch eine Taverne. Lydia, die Gastgeberin, organisiert regelmässig Konzerte, um den Ort zu beleben. SRF/Charles Liebherr

Lydia wählt pro-europäische Parteien und Frauen, weil Frauen ja noch gar nicht so lange wählen könnten, meint sie mit einem Augenzwinkern. Weitere Mitglieder sollte die EU aufnehmen. Um den Frieden zu sichern, um den Handel zu fördern, für mehr Kooperation. Ein Gewinn für alle, meint Lydia.

«Natürlich nehme ich an den Europawahlen teil. Ich wähle pro-europäisch. Es braucht mehr Offenheit.»

Das Friedensprojekt Europa

Auch der Direktor des Weltfriedenszentrums in Verdun hält die europäische Integration für wichtig. Gewissermassen von Amtes wegen. Sein Zentrum wurde vom französischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler initiiert. Als Zeichen der Versöhnung. In Verdun gaben sich Helmut Kohl und François Mitterrand die Hand an einer der Gedenkfeiern zum Ende des Ersten Weltkrieges.

Im Garten des «Zentrums für den Frieden in der Welt, der Freiheiten und Menschenrechte» können Besucherinnen eine Freundschaftsglocke anklingen lassen. Für Direktor Philippe Hansch hat Europa diese zentrale Aufgabe: Menschen vor Krieg zu schützen.

«Es ist wichtig, dass wir Menschen uns für den Frieden interessieren. Wir nörgeln den ganzen Tag, was alles falsch läuft in Europa. Dabei vergessen wir, dass Europa den Frieden sichert.»

«Wir dürfen nie vergessen, dass der Krieg zurückkehren kann»

In und rund um Verdun wird aber vor allem der Krieg ausgestellt. Überall stehen Wegweiser zu Gedenkstätten an die beiden Weltkriege. In Verdun starben Hunderttausende Soldaten im Granatenhagel.

Joël Nogier vom Tourismuszentrum hat keine Mühe mit diesem Image von Verdun. Es sei eben wichtig, sich an den Krieg zu erinnern, damit sich die Geschichte nicht wiederhole. Aktuell reisen viele Schulklassen nach Verdun. Das hängt auch mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Wer im Internet nach «Verdun» sucht, erhält auch Suchergebnisse, die auf Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine hinweisen.

Beleuchtete Betonstatue mit rot-blauer Illumination in der Nacht.
Legende: Rum um Verdun liegen die grössten Gedenkstätten zum 1. Weltkrieg. Nahe Verdun liegt auch der älteste amerikanische Soldatenfriedhof. SRF/Charles Liebheer

«Bachmut in der Ukraine und andere Orte von Massakern der russischen Armee in der Ukraine werden am häufigsten genannt im Zusammenhang mit Verdun.»

Die Schülerin Aurore hat viele Gedenkstätten besucht. Sie wuchs in der Region rund um Verdun auf. «Wir dürfen nie vergessen, dass der Krieg zurückkommen kann. Wir sehen das in anderen Ländern.»

Die Fahrrad-Route EuroVelo 19 beginnt bei der Quelle der Maas und endet bei der Mündung am Ärmelkanal. Sie führt mitten durch Europa. Am Wegrand zwischen Verdun und Maastricht stehen vor den Europawahlen grosse Erwartungen an Europa, aber auch enttäuschte Hoffnungen.

International, 2.6.2024, 9:08 Uhr ;kobt

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