«Es war ein schöner Tag. Doch dann war es, wie wenn es dunkel wird und es kein morgen mehr gibt.» Azim Kakaie sieht noch die Bilder vor sich, von jenem Tag, dem 15. August 2021, an dem die Taliban Kabul einnehmen.
Niemals hätte er dies so rasch erwartet. Noch Tage später wartet er auf Regierungstruppen, die nie kommen. Denn die afghanischen Soldaten wollen nur noch eines: Das Land verlassen. Sie leisten keinen Widerstand.
«Wir konnten die Menschen nicht stoppen»
Ein Drama, das sich vor seinen Augen abspielt. Azim Kakaie ist Fluglotse in Kabul. Er arbeitet zusammen mit US-Militärangehörigen. Menschen drängen zum Flughafen, wo er seine Schicht als Lotse leistet.
Chaos bricht aus. «Das war sehr, sehr hart, zu sehen, wie die Leute nur noch wegwollten. Das Land verlassen. Wir konnten sie nicht stoppen.» Afghanische Militärpiloten heben mit Helikoptern ohne Starterlaubnis ab, dazwischen rollen Maschinen.
Azim gibt den Piloten Anweisungen mit seinem Handy, weil der Funk ausfällt. Die Batterie des Mobiltelefons ist fast leer. «Es war schlimmer als in jedem Film. Wie die Leute sich festklammerten am Flugzeug, um das Land zu verlassen. Da habe ich das erste Mal gesehen, wie ein Helikopter versuchte, die Menschen von der Piste zu vertreiben.»
Er sagt, ihm fehlten die Worte, um dieses Drama zu beschreiben. Immer mehr Menschen versuchen verzweifelt, in den Flughafen zu gelangen.
Attacken der Taliban
Azim Kakaie und seine Frau hatten zuvor frohe Pläne. Sie beendeten eine Weiterbildung. Shazia ist eben schwanger geworden. Doch Azims Familie befindet sich ausserhalb des Flughafens: Shazia, ihre Mutter, Azims Bruder und Schwager. Azim fürchtet um ihre Leben. Jeden Tag versuchen sie es erneut: vorbeizukommen an den Taliban, den afghanischen Soldaten, bis zum Tor. Die Taliban schlagen Shazia. Und sie bekommt eine Ladung Tränengas ab. Doch sie schaffen es nicht in den Flughafen, wo Azim rund um die Uhr arbeitet.
Die USA wollen Azim, der jahrelang für das US-Militär gearbeitet hat, ausfliegen. Jetzt oder nie. Azim Kakaie ist es als Fluglotse gewohnt, unter Druck schwierige Entscheidungen zu fällten und sich nicht von Gefühlen wie Angst überwältigen zu lassen. Doch diese Situation ist anders. «Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens», sagt der Fluglotse.
Doch Azim geht. Er verlässt das Land in einer Frachtmaschine und fliegt über eine Zwischenstation in die USA. Nur so könne er seiner Familie helfen, ist er überzeugt.
Das Ende der Luftbrücke naht
Die USA evakuieren zehntausende Menschen aus Afghanistan. Es bleiben nur noch wenige Tage bis zur Deadline, dem Ende der Luftbrücke. Azims Familie übernachtet nun auch vor dem Flughafen. Seit zehn Tagen versuchen sie vergeblich, hineinzugelangen. Dann geht eine Bombe beim Tor hoch, ein Attentäter tötet über 180 Menschen.
Azims Familie schaffte es 30 Minuten vor der Explosion. Ein Unteroffizier der USA half ihnen. «Sergeant Taylor Hoover hat ihre Visa erkannt. Er brachte meine Familie in einen Bus und liess sie in den Flughafen rein.» Er ist dem Marine unendlich dankbar.
Das ersehnte Wiedersehen
Zwei Monate später wartet Azim Kakaie am Flughafen von Salt Lake City auf seine Familie. Sie kamen über Katar und Deutschland in ein Aufnahmezentrum in Indiana. Nun kommen sie zu Azim nach Salt Lake City, um ihr neues Leben in den USA zu beginnen.
Vor zwei Monaten hatte Azim Kabul verlassen – und wusste nicht, ob er seine Frau je wiedersehen würde. Nun kann er sie endlich in die Arme schliessen. «Das ist der beste Tag meines Lebens. Meine Familie ist hier, in Sicherheit. Ich bin so glücklich!» Azim zeigt seiner Familie stolz das neue Zuhause – erst gerade fand er dank einer Hilfsorganisation eine Wohnung.
Der Retter ist getötet worden
Seine Familie hat es geschafft. Doch der Unteroffizier, der ihnen half, wurde beim Anschlag am Flughafentor getötet. Er ist einer von 13 getöteten amerikanischen Armeeangehörigen.
Zwei Wochen später stehen Shazia Kakaie und ihre Mutter in der ungewohnten amerikanischen Küche und bereiten ein Festessen zu für den Vater von Taylor Hoover. Sie werden ihn zum ersten Mal treffen. «Ohne Sergeant Hoover wären wir nicht hier in Amerika. Er hat meine Hand genommen und mich aus dem Abwasserkanal hochgezogen. Ich bin so traurig, dass wir ihn nicht wiedersehen», sagt Shazia Kakaie. Sie spricht bereits etwas Englisch.
Azim und seine Familie haben alles sorgfältig vorbereitet für den Gast, der ihnen so viel bedeutet. Früchte, Nüsse, Tee stehen bereit, als es an der Tür klingelt. Azim Kakaie umarmt den Vater des Mannes, der seine Familie in Sicherheit gebracht hat. Dann stellen sich Shazia und ihre Mutter vor. Es ist ein emotionales Treffen, Tränen fliessen. Sie erzählen Darin Hoover, wie ihnen Taylor geholfen hat. Es war die letzte Stunde im Leben seines Sohnes.
Held im Dienst der Menschlichkeit
«Er hat sein Leben geopfert im Dienst der Menschlichkeit», sagt Azim. «Er wird in unseren Herzen bleiben bis an unser Lebensende, bis wir ihn treffen.» Der Vater des getöteten Soldaten erzählt, wie Taylor Hoover mit vollem Einsatz seine Aufgabe erfüllte. «Er blieb viele Stunden über seine Schicht hinaus und ging nur kurz weg, um ein wenig Schlaf zu kriegen. Dann ging er zurück, denn er sah die Frauen und Kinder als seine Mütter und Schwestern.»
Die Familie Kakaie erzählt auch von jenen Angehörigen, die nach wie vor in Afghanistan sind und sich vor den Taliban fürchten. Der Schwager von Azim, Arif Muradi, besass in Kabul einen Nachtklub, wo auch Alkohol ausgeschenkt wurde. Deshalb ist er ein Ziel für die Taliban. Doch seine Frau und sein Sohn sind noch dort.
«Mein Sohn wurde geboren, als ich bereits weg war. Er ist nur zwei Monate alt», sagt Arif und zeigt das Foto seines Sohnes. Er weint. Er versucht nun, seiner Familie aus den USA zu helfen. Doch die Chancen stehen schlecht, dass er sie nachkommen lassen kann.
Schliesslich serviert die Familie Kakaie dem Vater das afghanische Mahl. «Das ist gut!», sagt Darin Hoover, und die Köchinnen freuen sich. Zwei versehrte Familien finden gegenseitig Trost. Der eine in der Trauer um seinen Sohn, die anderen in der Sorge um Angehörige, die in Afghanistan zurückgeblieben sind.
«Ich beginne wieder bei Null»
Später machen Azim und seine Familie erstmals einen Ausflug in die Umgebung, an einen kleinen See. Sie tragen einen Teppich und Picknick-Ausrüstung an einen hübschen Aussichtspunkt. Azim suchte sich Utah bewusst aus. Es ist landschaftlich und klimatisch ähnlich wie Afghanistan. «Ich habe das Land verlassen. 34 Jahre meines Lebens und alles, was ich hatte, liess ich zurück. Ich hatte nur die Kleider am Leib und beginne wieder bei Null. Und ebenso meine Familie.»
Doch Azim sagt, diese Schwierigkeiten seien klein. Er fand bereits eine Arbeit bei einer Hilfsorganisation. Für ihn überwiegen Dankbarkeit und ein grosser Antrieb. Er will für seine Familie sorgen, ihnen eine Ausbildung ermöglichen - und, wie er sagt, ein verantwortungsbewusstes Mitglied der Gesellschaft in seiner neuen Heimat werden.