Ein fröhliches Lied stellte Polina Kovalevskaja vor zwei Jahren ins Netz – ein Konzert der musikbegeisterten Familie. Aufgenommen in ihrer Wohnung in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol, als die Welt der 21-Jährigen noch in Ordnung war. Heute gibt es die Wohnung nicht mehr, ihre Heimatstadt ist zerstört und von russischen Truppen besetzt.
Die Flucht vor den Bomben
Polina erzählt am Telefon von der Flucht nach Kriegsbeginn; zuerst aus der Wohnung und dann von einem Gebäude ins andere. Den ersten Zufluchtsort mussten sie wegen eines Brandes verlassen. Unter Beschuss fanden sie für ein paar Tage ein anderes Gebäude, wo sie ein Bombardement mit Glück überlebten.
Darauf floh die Familie in ein Spital, das kurz darauf von russischen Panzern unter Beschuss genommen wurde. Das war am 3. April. Die Soldaten drangen ins Gebäude ein, durchsuchten zuerst die oberen Stöcke, dann den Keller, wo die Familie war. «Die Russen sahen, dass wir Zivilisten sind und sagten: Ihr könnt wegfahren», berichtet Polina.
Keine Option ausser Russland
Wohin, wurde ihnen zunächst nicht gesagt. Polina stellt fest: «Zuerst wurde unser Stadtteil vom Rest der Stadt abgeschnitten, dann eroberten die Russen die ganze Stadt. Die einzige Möglichkeit, wegzukommen, war über das besetzte Territorium nach Russland. Wenn wir die Wahl gehabt hätten, wären wir auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geflohen.»
Wenn wir die Wahl gehabt hätten, wären wir auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geflohen.
Aber das war nicht möglich. Und so sassen sie in ein Fahrzeug, das sie in ein Zeltlager auf dem Gebiet der selbsternannten Volksrepublik Donezk brachte und wenige Tage später in die südrussische Stadt Taganrog. Sie wurden befragt, verpflegt, erhielten neue Kleider, konnten endlich wieder duschen.
Russische Propaganda
Was Polina stutzig machte: Die Russen nahmen alles auf Video auf. Wie sie die Leute wegbringen, wie sie Medikamente verteilen, wie sie Essen ausgeben. «Ukrainische Soldaten, die uns halfen, haben nie gefilmt. Von den Russen wurden wir dauernd gefilmt, wie Äffchen», so Polina.
Deshalb meint sie: «Sie kamen, um zu töten. Aber gleichzeitig gibt es diese starke Propaganda. Sie rechtfertigen das Töten damit, dass sie uns retten wollen. Ich denke, sie haben uns herausgeholt, um zu demonstrieren, dass sie auf der Seite der Guten sind.»
Sie rechtfertigen das Töten damit, dass sie uns retten wollen. Ich denke, sie haben uns herausgeholt, um zu demonstrieren, dass sie auf der Seite der Guten sind.
Von Taganrog ging es mit Bussen in die nahe Stadt Rostow am Don. Von dort sollte ein Bus sie nach Wladikawkas, in die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Nordossetien, bringen. Warum und zu welchem Zweck wurde der Familie nicht gesagt.
Weitere Flucht in Russland
Tatsache ist: Geflüchtete Ukrainer und Ukrainerinnen werden in Aufnahmezentren in ganz Russland verteilt. Manche Zentren sind sehr abgelegen, es gibt sie sogar im Fernen Osten. Einige Geflüchtete bleiben dort und suchen Arbeit, andere wollen nur weg aus dem Land des Aggressors. Wieder andere bleiben hilflos und traumatisiert in den Aufnahmelagern.
Die Familie von Polina Kovalevskaja konnte sich dank Freunden aus Rostow absetzen und schlug sich mit Hilfe russischer Freiwilliger nach Sankt Petersburg durch. Von dort schafften sie es über die Grenze nach Estland. Die russischen Beamten lassen in der Regel jene Flüchtlinge mit Dokumenten passieren.
In Estland wurden die Kovalevskys von einer Familie aufgenommen. Polinas Schwestern sind an der Universität und leben im Studentenheim, ihre Eltern haben Arbeit gefunden und möchten in Estland bleiben. Polina möchte weiter nach Spanien.