Vom Flüchtlingslager «Kara Tepe» auf der griechischen Insel Lesbos kursieren Bilder und Videos, die die desolaten Zustände im Camp illustrieren: überschwemmte Böden, Wassergräben, die durch Zelte fliessen. In der Tat sei die Situation in den Camps auf den Inseln sehr schwierig, bestätigt die in Athen lebende Journalistin Rodothea Seralidou.
SRF News: Sind die derzeit in den sozialen Medien kursierenden Bilder und Videos glaubwürdig?
Rodothea Seralidou: Auf jeden Fall. Auch wenn sich die Bilder seit den ersten Herbstregenfällen wiederholen: Immer, wenn es stark regnet, wird das Camp überschwemmt. Betroffen sind vor allem die unteren Bereiche des Camps.
Derzeit beträgt die Temperatur auf Lesbos bloss ein Grad Celsius.
Dort sammelt sich das Wasser, es fliesst in die Zelte, es bildet sich Matsch – und das bei Temperaturen von derzeit bloss rund einem Grad Celsius. Auf Lesbos könnte es demnächst sogar schneien – und die Menschen im Camp sind Wind und Wetter fast schutzlos ausgeliefert.
Nachdem das Lager Moria abgebrannt war, versprach die griechische Regierung, dass das neue Lager humanitären Kriterien genügen würde. Ist dem also nicht so?
Es ist kein Zufall, dass die Geflüchteten selber von «Moria 2» sprechen. Es gibt kaum Duschmöglichkeiten, als Toiletten stehen bloss Toitois zur Verfügung. Zwar sagt die griechische Regierung, die Infrastruktur werde laufend verbessert – doch die aktuellen Bilder und Videos zeigen eine alles andere als gute Situation.
Wegen Corona darf jede Person das Lager im Schnitt bloss einmal pro Woche verlassen.
Verschärft wird die Lage durch den Lockdown: Pro Tag dürfen bloss 900 Personen das Lager für maximal drei Stunden verlassen – dabei leben rund 7000 Menschen in dem Camp. Das heisst also, dass jede Person das Lager bloss einmal pro Woche verlassen darf. Sie können den Zuständen im Lager also kaum entkommen, was den seelischen Druck auf die Menschen weiter erhöht.
Die derzeit kursierenden Bilder stammen von Flüchtlingen und Migranten selber. Medien haben wegen der Corona-Pandemie keinen Zutritt zum Lager. Und Mitarbeiterinnen dürfen nicht mit den Medien sprechen. Weshalb ist das so?
Im neuen Gesetz zu den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln ist eine Verschwiegenheitspflicht festgehalten. Demnach dürfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Camps ihre Beobachtungen nicht weitergeben – selbst dann nicht, wenn sie gar nicht mehr dort arbeiten.
Wer in einem Camp arbeitet, darf keine Informationen nach draussen weitergeben.
Die Nachrichten über die Missstände in den Lagern stammen derzeit deshalb von Helfern, die nicht selber dort arbeiten, aber Kontakte zu den Geflüchteten haben. Dazu gehören etwa Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen.
Die Zahl der neu in Griechenland angekommenen Flüchtlinge ist im vergangenen Jahr gegenüber 2019 um das Sechsfache auf rund 10'000 zurückgegangen. Weshalb bessert sich die Lage in den Camps trotzdem nicht?
Das hat viele Gründe. Viele Camps sind trotz der tieferen Zahlen immer noch überfüllt. Dazu gehört etwa das Lager auf Samos: Es ist für maximal 700 Menschen vorgesehen, laut dem UNHCR leben dort aber fast 4000 Personen. Nur wer als verletzlich gilt, wird aufs griechische Festland gebracht. Die anderen müssen auf den Inseln bleiben, bis sie ihren Asylentscheid erhalten. Hinzu kommt sicher auch der Faktor Abschreckung: Die Regierung deklariert immer wieder, dass Griechenland nicht das Tor nach Europa für die Migranten sei.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.